Der Begriff "Ambivalenz" sagt wahrscheinlich nur wenigen Überlebenden von physischem oder sexuellem Missbrauch etwas. Er wird in der Fachliteratur meist nur am Rande erwähnt, aber nicht genau erklärt. Dabei geht es jedoch um einen der einflussreichsten Grundmechanismen, die einem das Leben schwer machen können. Eine Beschäftigung ist sehr lohnend, weil man dann leichter lebt und mit weniger Schwierigkeiten kämpfen muss.
Ganz grob: mehrere gleichzeitig vorhandene widersprüchliche Gefühle und Handlungsimpulse, die nicht zusammenpassen oder einen in eine "Zwickmühle" bringen (können), weil sie zumindest in Teilaspekten miteinander unvereinbar sind (Gefühls-Dilemma, Zwiespalt).
Beispiele:
Häufig sind einige dieser Gefühle nicht bewusst, wirken sich aber in einer bestimmten Situation trotzdem aus.
Ambivalenzen als solche sind ganz normal. Sie treten bei jedem Menschen auf, und zwar sehr viel häufiger als man gemeinhin glaubt. Das Auftreten von Ambivalenzen ist also keine Ausnahmeerscheinung. Allerdings können starke und dauerhafte Ambivalenzen zu schlimmen inneren Leiden führen. Bei Überlebenden können diese besonders schmerzhaft sein.
Kennzeichen von Grund-Ambivalenzen sind, dass es dabei um lebenswichtige (existentielle) Grundgefühle geht.
Inhaltsverzeichnis (zur besseren Navigation in diesem langen Artikel):
Daneben gibt es viele weitere Ambivalenzen, die vielleicht in zukünftigen Versionen dieses Artikels angerissen werden.
Nirgendwo sonst kann man einen Menschen so zutiefst verletzen wie auf dem Gebiet der Sexualität!
Eine der häufigsten Ambivalenzen, die bei sexuellem Missbrauch auftreten, betreffen schöne Gefühle und sexuelle Erregung während des Missbrauchs.
Diese sehr häufig vorkommenden Gefühle stellen für Überlebende oft ganz massive Probleme dar, weil sie mit der Missbrauchs-Situation und den Missbrauchs-Gefühlen (missachtet worden zu sein, erniedrigt worden zu sein, ...) in Konflikt stehen. Viele Überlebende schämen sich dafür, dass sie als Kind beim Missbrauch (manchmal auch bei sogenannten "perversen" Sachen) mitgemacht haben und dabei u.a. auch Lust gespürt haben, obwohl es unter psychischem oder physischem Durck / Zwang geschah.
Dazu sollte man sich folgendes klarmachen: der Körper reagiert auf der biologischen Ebene auf sexuelle Stimulation wie auf Knopfdruck, ähnlich wie bei einem Reflex. Die Sexualität wurde von der Evolution viele Millionen Jahre vor dem Verstand, ja sogar noch vor den meisten anderen Gefühlen erfunden und wird im Gehirn von anderen Schaltkreisen als das normale Alltags-Gedächtnis gesteuert. Daher kann die biologische Reizverarbeitung der Sexualität sogar vollkommen unabhängig von anderen Gefühlen laufen. Dies erklärt, warum man jemanden, der einen sexuell erregt, gleichzeitig abgrundtief hassen kann. Man kann also gleichzeitig die schönen, angenehmen Gefühle haben, die die sexuelle Erregung nunmal natürlicherweise hervorruft, und gleichzeitig vollkommen andere negative Gefühle.
Machen wir uns also klar: die Verarbeitung sexueller Stimulationsreize an den Genitalien arbeitet großenteils reflexhaft und unwillkürlich, ähnlich wie das Atmen oder Herzschlagen, das nur in gewissen Grenzen mit dem Verstand beeinflusst werden kann. Zwar lässt sich der Atem ein wenig steuern (z.B. beim Singen oder Instrument-Spielen), aber nicht beliebig lange unterdrücken. Sexualität lässt sich zwar ebenso in der Ausführungsform steuern, eine komplette Unterdrückung (z.B. sowohl der Selbstbefriedigung als auch jeglicher Sexualphantasien) ist biologisch genauso unmöglich (und hätte ähnliche gesundheitliche Folgen) wie das dauerhafte Anhalten des Atems. Schließlich ist der Sexualtrieb zusammen mit dem Selbsterhaltungstrieb der wichtigste und älteste Trieb, dem wir unsere Existenz verdanken! Hunderte von Millionen von Jahren an Evolution haben dies geschaffen und lassen sich mit den wenigen Jahrtausenden unserer Kulturentwicklung wie z.B. dem Inzest-Tabu nicht vergleichen!
Hinzu kommt noch folgendes: Die Nervenbahnen, die für die Steuerung der Sexualität zuständig sind, liegen direkt neben denen, die für den Jagdtrieb (Selbsterhaltung) zuständig sind. Daher hat die Sexualität bereits auf der biologischen Ebene eine starke Verwandtschaft mit Gewalt!
Dies kann sehr leicht dazu führen, dass die beim Missbrauch stattfindende Gewalt mit der Sexualität verknüpft wird (Lern- und Trainings-Effekt auf der niederen biologischen Steuerungsebene, den impliziten Gedächtnissen). Die Folge dieser gelernten und trainierten Querverknüpfungen zischen den benachbarten Schaltkreisen ist: Gewalt, wie sie z.B. bei einer Vergewaltigung immer mitspielt, wirkt dann u.U. als sexuell stimulierend! Dies läuft wie gesagt auf einer Reflex-Ebene ab und lässt sich kaum mit dem Verstand steuern.
Dieser Zusammenhang erklärt nicht nur das relativ hohe Vorkommen sado-masochistischer Phantasien in der Allgemeinbevölkerung. Er erklärt auch, weshalb das Sexualleben vieler Überlebender gestört ist: Lustempfinden ist bei manchen nur noch möglich, wenn Leiden oder Gewalt, manchmal auch Selbstverletzung mitspielen. Gewalt-Phantasien und Vergewaltigungs-Phantasien kommen bei Überlebenden extrem häufig vor (auch durch Studien nachgewiesen). Gleichzeitig schämen sich die meisten aber dafür und halten sich selber in irgendeiner Form für anormal oder pervers (Teufelskreis mit niedrigem Selbstwert). In Wirklichkeit kämpfen sie jedoch mit einem Problem, für das der Täter die Verantwortung trägt, weil dieser die "perversen" Muster bei der traumatisierend wirkenden Missbrauchshandlung in die Schaltkreise des Opfers regelrecht einprogrammiert hat (Sadismus im engeren Sinne).
Man sollte sich also klarmachen, dass Schuldgefühle und andere negative Gefühle wegen des Missbrauchs und seiner Folgen auf der biologischen Steuerungsebene nicht berechtigt sind!
Achtung! das Vorhandensein von emotionalen Ambivalenzen wird oftmals nicht mit dem Verstand erkannt. Es kann also leicht sein, dass nur eine der widersprüchlichen Gefühls-Seiten bewusst ist und das Missachten der anderen Seite zu seltsamen Effekten oder unerklärlichen Problemen führt.
Beispiel: wenn einige wenige Überlebende berichten, der sexuelle Missbrauch habe ihnen Spaß gemacht und es habe keine negative Wirkungen auf sie gehabt, dann muss dies nicht unbedingt nur mit Täter-Identifikationen (Stockholm-Syndrom) oder absichtlichem Täter-Lobbyismus zusammenhängen (obwohl dieses auch bei physisch oder sexuell missbrauchten Kindern vorkommen kann), sondern es kann auch sein, dass die andere Seite der Ambivalenz verdrängt oder dissoziiert ist (z.B. da ihre Wahrnehmung kaum aushaltbar wäre) und deshalb nicht wahrgenommen werden kann, aber dennoch vorhanden ist.
Dies bedeutet nicht, dass der "Spaß-Anteil" am Missbrauchs-Geschehen grundsätzlich falsch ist. Es fehlt jedoch die Wahrnehmung der anderen ambivalenten Gefühle, die überhaupt nicht zu diesen angenehmen Gefühlen passen. Es kann auch umgekehrt vorkommen: mir sind zuerst nur die schrecklichen / bestialischen Seiten meines Missbrauchs durch meine Mutter durch Flashbacks ins Bewusstsein gekommen - die anderen "angenehmen" Teile habe ich erst Jahre später in der Therapie entdeckt. Ich schäme mich heute nicht mehr dafür, dass es mir auf der biologischen Ebene teilweise auch Spaß gemacht hat. Dieser "Spaß" wurde jedoch teuer erkauft....
Man darf aus einer schwachen oder fehlenden Wahrnehmung der jeweils "anderen Seite" also niemals schließen, dass keine Ambivalenz vorhanden sein könne - um wirklich heilen zu können, ist eher das vorsichtige Aufspüren (z.B. mit therapeutischer Begleitung) der versteckten anderen Seite(n) empfehlenswert.
Über dieses Thema habe ich bereits einen eigenen Artikel aus meiner eigenen Perspektive geschrieben. Hier kommen einige Ergänzungen im Hinblick auf die dabei empfundenen ambivalenten Gefühle.
Sexueller Missbrauch und Vergewaltigung muss auf der biologischen Ebene nicht immer nur Spaß gemacht haben. Es kann dort auch (und zwar sehr häufig) zu einer Abstoßungs-Reaktionen wie Ekel und Abscheu kommen, die vom Täter ignoriert und übergangen wurden.
Ekel ist ebenfalls eines der evolutionsbiologisch ältesten Grundgefühle: sein Sinn besteht seit Jahrmillionen darin, verdorbene (schädliche) Nahrung (oder ganz allgemein Umgang mit schädlichen Dingen) zu vermeiden und dient daher letztlich der Selbsterhaltung.
Immer, wenn es um die Selbsterhaltung geht, werden Gefühle existentiell. Wenn sich Ekel und Abscheu vor Sexualität durch traumatische sexuelle Erfahrungen gebildet haben oder gar noch vom Täter absichtlich einprogrammiert worden sind, kommen diese Gefühle später als Erwachsener meist in intimen Beziehungen wieder hoch und führen dort zu existentiellen Konflikten. Dann entsteht eine Ambivalenz u.U. als Spätfolge des Missbrauchs oder der Vergewaltigung: einerseits mag man den Partner und liebt ihn auf der emotionalen Ebene, aber im Bett geht dann typischerweise sozusagen "gar nichts mehr".
Es kann auch vorkommen, dass auf der biologischen Ebene mehrere ambivalente Gefühle wie gleichzeitige sexuelle Erregung und Ekel vorhanden sind, ohne dass diese widersprüchlichen Grundgefühle in vollem Maße bewusst sein müssen. Sie können sich z.B. vordergründig als Schlechtsein bemerkbar machen, müssen also nicht unbedingt als heftige Kotz- und Würgegefühle herauskommen. Wenn Ekel jedoch unterschwellig mitspielt, dann mischen meist auch noch weitere Gefühle im unbewussten "Gefühlscocktail" mit. Angst ist in einer derartigen Mischung ebenfalls häufig vertreten.
Wenn ein Gefühlscocktail existentielle Elemente wie z.B. Angst enthält, ist die Gefahr sehr groß, dass ein Ausweg gesucht wird, der sich letztlich destruktiv auf die Beziehung auswirkt.
Beispielsweise gefährdet länger andauernde sexuelle Verweigerung (auch wenn sie aus Selbstschutz geschieht) eine Intimbeziehung u.a. deshalb ganz massiv, weil sie dem Partner durch Körpersprache mitteilt, dass er als Sexualpartner abgelehnt wird und der sexuelle Aspekt der Beziehung vollkommen entwertet wird. Da auch Körpersprache eine Kommunikationsform darstellt, nützt es nichts, dem Partner auf der verbalen Ebene das Gegenteil zu sagen - bei ihm kommt das negative Gefühl trotzdem an; seine (wiederum ambivalenten) Gefühls-Reaktionen darauf können durch das gegenteilige widersprüchliche Wort sogar noch verschärft werden (Steigerung der Verwirrung anstatt einer Klärung). Körpersprachliche Botschaften sollte man daher niemals wegdiskutieren! Gerade bei dauerhafter sexueller Verweigerung kann die körpersprachliche negative Botschaft den Partner zutiefst verletzen - eventuell sogar unbewusst. Sexuelle Verweigerung ist auf Dauer wohl nur von wenigen Partnern zu verkraften (vgl. Literatur unten, David Schnarch). Da die Sexualität eine der Hauptsäulen einer Intimbeziehung darstellt, wird sie auf jeden Fall in arge Mitleidenschaft gezogen, auch wenn andere Aspekte der Beziehung scheinbar "in Ordnung" sein mögen. Es wird eine ganz andere Art von Beziehung daraus - keine Intimbeziehung mehr (sog. "Josefs-Beziehung"). Auch wenn niemand eine sexuelle Verweigerung einfach nur so ohne Grund macht, sondern fast immer immer eine innere Notlage dahintersteckt: ohne Aufspüren der hinter der Verweigerung steckenden Ambivalenzen überträgt sich die eigene Notlage auf die Beziehung, ob man will oder nicht.
Übrigens hat sexuelle Verweigerung nichts mit "normalem" Nein-Sagen innerhalb einer Intimbeziehung zu tun. Selbstverständlich sollten Überlebende das Nein-Sagen beherrschen, beispielsweise was abstoßende Sexualpraktiken betrifft oder wenn sie vorübergehend krank sind oder starken Stress hatten. Im Unterschied dazu entwertet ein sexueller Verweigerer eine Hauptsäule der Intimbeziehung über längere Zeiträume hinweg - und sagt damit Nein zur Intimbeziehung als solcher. Er verändert einseitig den Grundcharakter der Beziehung und übt dadurch extreme Macht auf den Partner aus. Diesem bleibt letztlich nur übrig, dies entweder zu schlucken oder die Beziehung zu beenden.
Wer im Internet nach Artikeln zum Stichwort "sexuelle Verweigerung" sucht, findet sehr viele Erklärungen - Angst oder Ekel vor Sexualität als Spätfolge sexueller Traumata ist jedoch nicht dabei. Sicher darf man nicht aus einer sexuellen Verweigerung schließen, dass ein sexuelles Trauma vorhanden sein muss, da auch andere Gründe wie ungelöste Beziehungsprobleme oder unterschwellige Macht-Auseinandersetzungen (Thema Autonomie / heimlicher Triumph über den Partner, was ebenfalls sehr beziehungsgefährdend wirken kann) ursächlich sein können. Allerdings frage ich mich, wie oft hinter Beziehungsproblemen in Wirklichkeit unerkannte sexuelle Traumatisierungen stecken mögen, weil sie entweder dissoziiert sind oder verdrängt / abgespalten werden.
Um das Problem der sexuellen Verweigerung zu lösen, darf man auf keinen Fall die (unbewussten) Angst- oder Ekelgefühle ignorieren oder zu umgehen versuchen. Dies macht die Sache nur schlimmer! Man sollte stattdessen versuchen, alle unbewussten Teile des Gefühlscocktails aufzuspüren und zu einer vorsichtigen Klärung / Entmischung und vor allem Aufarbeitung (siehe unten) zu kommen.
Bindungen sind ebenfalls Gefühle, und zwar lebensnotwendige Grundgefühle. Ohne Bindungen zwischen den beiden Elternteilen und vor allem zwischen den Eltern und dem Kind würden wir nicht existieren! Siehe auch Artikel über Promiskuität.
Eigentlich sollte jeder normal denkende Mensch erwarten, dass ein Vergewaltigungs- oder Missbrauchs-Opfer (egal ob von physischem oder sexuellem Missbrauch betroffen, oder von beidem) den Täter hassen müsste oder andere negative Gefühle ihm gegenüber haben müsste.
Dem ist jedoch (an der Oberfläche) fast nie so. Die Hass-Gefühle sind fast immer unterdrückt. Anders liegt es meist nur dann, wenn keine Vorbeziehung zum Täter vorhanden war. Dies kommt jedoch praktisch nur dann vor, wenn der Täter dem Opfer im Park aufgelauert hatte und anschließend verschwunden ist. Weit über 90% aller Missbräuche und Vergewaltigungen geschehen jedoch in einer (wie auch immer gearteten) Beziehung.
Die Bearbeitung dieser Beziehungs-Ambivalanzen zum Täter ist eine der wichtigsten Aufgaben einer Psychotherapie. Ein Therapeut, der z.B. das Opfer dazu bringen will, einseitig dem Täter zu verzeihen oder auch nur eine "gute Beziehung" zu ihm zu pflegen, geht voll an seiner Aufgabe vorbei und richtet in der Regel schweren Schaden beim Opfer an, das den Schaden aber meist erst Jahre später erkennen kann.
Um den Einfluss von Beziehungen auf die Gefühle gegenüber dem Täter verstehen zu können, müssen wir uns ansehen, wozu Beziehungen in unserer langen Evolutionsgeschichte erfunden worden sind.
Kinder können ohne Bindung an ihre Eltern nicht überleben. In der Steinzeit musste selbst ein 10-jähriges Kind verhungern, wenn es die Eltern verlor oder die Beziehung zu ihnen schwer gestört wurde. Aber auch heute noch müssen Babies und Keinkinder verhungern, wenn sie nicht versorgt werden. Immer wieder schreckt die Öffentlichkeit durch Medienberichte auf, dass Kinder durch Misshandlungen ihrer Eltern verhungert oder verdurstet oder sonstwie ums Leben gekommen sind.
Also: auf die Beziehungen zu den Eltern kommt es entscheidend an, und zwar auf Leben oder Tod!
Wenn nun die Eltern gleichzeitig auch Missbraucher sind, führt dies zwangsläufig zu einer Doppelbindung. Einerseits die kindlichen Liebes-Gefühle gegenüber den Eltern, die zur Aufrechterhaltung der Versorgung existenznotwendig sind, andererseits die schweren Hassgefühle und Abwehrreaktionen, die meist nur in den (vorübergehenden) Missbrauchs-Momenten an die Oberfläche kommen dürfen und zu einer negativen Bindung gehören.
Kinder können weder den Schmerz einer Doppelbindung dauerhaft aushalten, noch können sie sich ein Bewusstsein für die unvereinbaren Gefühle leisten. Um zu überleben, müssen sie die negativen Gefühle unterdrücken, die ein weiteres Zusammenleben mit den Versorgern unmöglich machen würden.
Freud hat diese Gefühls-Unterdrückung als Verdrängung bezeichnet (der Unterschied zur Dissoziation ist im Artikel über Abspaltung erklärt). Die Verdrängung ist jedoch keine "Fehlfunktion", sondern im Gegenteil: sie ist in Jahrmillionen von der Evolution erfunden worden, um das Überleben zu sichern!
Für einen Erwachsenen ist die Verdrängung verhängnisvoll. Denn die Unterdrückung der trotzdem hinter der Oberfläche vorhandenen Wut- und Hass-Gefühle kostet in Wirklichkeit enorme Kraft. Kraft, die für das eigene Leben fehlt.
Wenn ein Therapeut nicht bei der Aufdeckung dieser verdrängten Gefühle hilft (oder sogar die Verdrängung fördert), dann hilft er nicht dem Opfer, sondern dem Täter. Er hilft mit, dass das Opfer weiter innerlich dem Täter dienen muss, anstatt seinen eigenen Bedürfnissen zu folgen. Denn seinen eigenen Bedürfnissen kann nur folgen, wer diese kennt und nicht verdrängt hat.
Bei Kindern ist der Fall klar, weshalb sie Doppelbindungen entwickeln müssen, um zu überleben. Weshalb kommen jedoch Phänomene wie z.B. das bekannte "Stockholm-Syndrom" (Identifikation mit den Tätern) auch bei Erwachsenen vor? Schmerzhafte Doppelbindungen sogar zu solchen Tätern, zu denen keine Vorbeziehung vorhanden war?
Schauen wir uns die Dynamik einer Flugzeugentführung genauer an, die zu der Namensgebung "Stockholm-Syndrom" beigetragen hat: auch hier sind die Entführungsopfer über längere Zeit von den Tätern existenziell abhängig.
Weshalb hat die Natur für diesen Fall keine "besseren" Überlebens-Strategien entwickelt, sondern greift auch hierbei auf "Liebes-Gefühle" gegenüber den Tätern zurück?
Flapsig gesagt: in der Steinzeit gab es keine Flugzeuge. Und die Steinzeit hat mehr als 1000mal so lange gedauert wie unser heutiges bisschen Kultur- und Technik-Geschichte.
Die Natur hatte bisher also noch keine Zeit gehabt, sich an Lebensbedingungen anzupassen, wie sie erst seit kurzem in relativ größerer Menge auftreten können. Bis zu einer neuen evolutionären Anpassung werden immer diejenigen älteren Mechanismen aus dem Evolutions-Fundus geholt, die sich früher schon einmal bewährt hatten. Darunter besonders die uralten kindlichen Reaktionsmuster, für die es bisher einfach keinen Ersatz gibt.
Dieser Abschnitt betrifft nicht nur Überlebende, stellt aber für sie oftmals eine besonders schwere Herausforderung dar, weil Ähnlichkeiten mit Loyalitätskonflikten auftreten können, die beim kindlichen Missbrauch rein altermäßig noch gar nicht bewältigt werden konnten.
Die schmerzhafte Doppelbindung zu mehreren (Sexual-)Partnern ist bereits im Artikel über Promiskuität / häufige Affären am Rande erwähnt worden. Eine bewusste schmerzhafte Doppelbindung entsteht meist im Zusammenhang mit längerfristigen Affären (sog. Daueraffären). Die besondere Situation einer Daueraffäre soll hier unter einem anderen Blickwinkel genauer betrachtet werden.
Daueraffären können zwar in seltenen Fällen auch vollständig bewusst eingegangen werden, in den meisten Fällen "schlittern" die Betroffenen jedoch irgendwie hinein (Übergang einer ursprünglich als kurzfristig vorgesehenen / eingestuften / so umgedeuteten Affäre in eine längerfristige Daueraffäre). Einige Menschen (besonders oft Überlebende) scheinen darüber hinaus eine besondere Anfälligkeit für (Dauer-)Affären zu besitzen: sie schlittern scheinbar "wie von selbst" in solche hinein.
Um das Phänomen des "Hineinschlitterns" zu verstehen, sollte man sich klar machen, dass auch kurzfristige Affären auf der psychischen Ebene immer ambivalent sind. Ohne Ambivalenzen sind Affären schlichtwegs undenkbar! Bereits der Name deutet dies an.
Da Affären fast immer schmerzhaft für mindestens einen der Beteiligten verlaufen, entsteht nicht selten ein hoher (existentieller) Leidensdruck.
Die Autorin Anne Wilson Schaef sieht bei häufigen Affären eine Suchtproblematik, wobei sie eine Feinunterscheidung zwischen Sexsucht, Romanzensucht und Beziehungssucht trifft (die sich nach meinem Dafürhalten aus unterschiedlichen Ebenen der körperlichen und psychischen Organisation des Menschen ergibt). Nach diesem Modell hätte Promiskuität etwas mit Sexsucht, kurzfristige Affären (bei denen auch Bindungsgefühle mitspielen) etwas mit Romanzensucht, und Daueraffären etwas mit Beziehungssucht zu tun.
Die Sucht-Erklärung greift jedoch nach meinem Dafürhalten viel zu kurz. Die Trennung in Sexsucht, Romanzensucht und Beziehungssucht führt m.E. dazu, dass man über mögliche Mischformen nicht mehr nachdenkt, die sich aus der Kombination der unterschiedlichen Ebenen menschlicher Existenz ergeben können. So kann eine Daueraffäre durchaus sowohl die körperlich-sexuelle, als auch die Selbstbestätigungs- und Selbstwert-Ebene (typisch für Romanzensucht), als auch die Verlässlichkeits- und Beziehungs-Versorgungs-Ebene (typisch für Beziehungssucht) umfassen, und zwar gleichzeitig. Eine Einengung der Betrachtung auf Sucht-Problematiken ignoriert oft auch weitere wichtige Aspekte.
Mein Haupteinwand gegen eine Sucht-Betrachtung von Daueraffären ist jedoch fundamentaler Art: die dabei eingegangenen doppelten Bindungen sind existentieller Natur. Wie weiter oben genauer erklärt, können wir ohne Bindungen nicht existieren!
In diesem Punkt unterscheiden sich vorgebliche Ess- oder Sex-Süchte fundamental von Alkohol-, Nikotin- oder Drogensüchten. Ohne Alkohol oder Drogen kann man sehr gut, ja sogar viel besser leben; ohne Essen oder Sex jedoch nicht. Wenn wir dies dennoch versuchen würden, dann würde die Menschheit über kurz oder lang aussterben!
Das Hineinschlittern in Daueraffären verläuft wie oben erwähnt fast immer über das Zwischenstadium der Kurzzeit-Affäre. Es lohnt sich also, die hinter einer Kurzzeitaffäre steckenden Kräfte und die Entstehung genauer anzusehen. Hier ein paar Hypothesen und Theorien:
Partnerschafts- und sexuelle Bindungen sind für uns existenznotwendig, denn ohne diese Bindungen unserer Eltern würden wir nicht existieren, weil wir als Kind nicht dauerhaft versorgt und aufgezogen worden wären.
Die Aufzucht von menschlichen Kindern stellt im Vergleich zu anderen Tierkindern wesentlich höhere Anforderungen. Romulus und Remus konnten nur in der Sage von einer Wölfin aufgezogen werden; in Echt wäre dies unmöglich. Die Aufzucht menschlicher Kinder schluckte schon in der Steinzeit so viel Energie und materielle Ressourcen, dass die Eltern einige Jahre davon fast vollständig in Anspruch genommen wurden. Ging in dieser Zeit die Eltern-Beziehung in die Brüche, sanken die Überlebenschancen des Kindes ganz massiv.
Die Stabilität der Eltern-Bindung ist also für den Fortpflanzungserfolg wesentlich. Beim Menschen gilt dies nicht nur für die Mutter, sondern auch für den Vater.
Wenn ein Partner, insbesondere die Mutter, sich an mehrere Väter (bzw in polygamen Gemeinschaften sich an mehrere konkurrierende Gruppen) gleichzeitig binden würde, bestünde die große Gefahr, dass der Nachwuchs verhungern müsste, weil ihre begrenzten Ressourcen nicht zur Erfüllung der Bedürfnisse doppelt so vieler Männer und Kinder ausreichen würden.
Dies kann erklären, weshalb die Evolution die Eltern-Bindungen offensichtlich so gestaltet hat, dass gleichartige parallele Eltern-Bindungen an weitere Partner über kurz oder lang von den Ausübenden als schmerzhaft empfunden werden. Wären sie nicht schmerzhaft, dann würden sie nicht vermieden (sondern wegen der sexuellen Anziehung gesucht), und der Nachwuchs hätte als Folge der Doppelbindung geringere Chancen zum Überleben.
So gesehen haben Ambivalenzen also auch eine lebensrettende Funktion: ihr Schmerz verhindert, dass wir unsere Kinder verhungern lassen.
Dennoch ist ein Partnerwechsel möglich und in einigen Fällen sogar evolutionsbiologisch sinnvoll, wenn es dem Überleben der Kinder in schlechten Versorgungslagen dient. Dies wurde bereits in meinem Artikel über Promiskuität ausführlich erklärt. Loyalitäts-Ambivalenzen, wie sie in den dort beschriebenen heimlichen Wechsel-Szenarien (auch zwischen verschiedenen polygamen Versorgungs-Gruppen) zwangsläufig auftreten müssen, sind bei biologisch sinnvollen Partnerwechsel-Szenarien stets auf Durchgangsstadien beschränkt. Dieses Durchgangsstadium ist notwendig, weil ansonsten ein sicherer Partnerwechsel nicht möglich wäre, der die unterbrechungsfreie Weiterversorgung des bisherigen Nachwuchses nicht gefährdet. Längeres Verharren in unaufgelösten Partnerschafts- und Loyalitäts-Ambivalenzen war in der Steinzeit gefährlich für den Nachwuchs und musste daher von der Evolution ausgemerzt werden.
Folgerung: schmerzhafte Ambivalenzen spielen auch bei einer heutigen Affäre insgesamt eine lebenserhaltende Rolle.
Bei einer Affäre kommen zu den Effekten einer "normalen" Ambivalenz noch weitere grundlegende Merkmale hinzu: die Geheimhaltung und die Lügen, die zur Aufrechterhaltung des Doppellebens notwendig sind. Diese erzeugen eine immense zusätzliche Belastung und verbrauchen damit wertvolle Ressourcen, die an anderer Stelle (z.B. bei der Heilung von Missbrauchs-Folgen) dann fehlen.
Als Folgewirkungen einer Daueraffäre sowie der Geheimhaltung und Lügen können u.a. folgende Effekte auftreten:
Wenn wir einmal begonnen haben, die negativen Auswirkungen einer Daueraffäre oder von ständig wiederholten Kurzaffären für unser eigenes Leben wirklich zu begreifen und nicht mehr länger die Augen vor ihnen verschließen, dann sehen wir folgendes Bild:
Dies ist auch unter dem altmodischen Begriff des Schaffens klarer Verhältnisse bekannt. Wer klare Verhältnisse schafft, der vereinfacht die Lage und vereinfacht damit sich selber das Leben!
Viele Menschen fürchten sich vor 3), weil sie Angst vor den Konsequenzen einer Aufdeckung und der damit verbundenen Aufdeckungskrise haben. Genau hinschauen: Punkt 3) fordert keine Aufdeckung, sondern lediglich eine Auflösung der Doppelbindung, nicht mehr und nicht weniger!
Wer sich zum Verbleib in der Hauptbeziehung entschieden hat, der muss also seinen Hauptpartner nicht unbedingt über die Nebenbeziehung aufklären; in manchen Fällen kann dies aber dennoch ratsam sein (siehe später). Wer sich hingegen zum Wechsel entschieden hat, wird in der Praxis wohl kaum darum herumkommen, dem Hauptpartner den wahren Grund für den Partnerwechsel mitzuteilen.
Einige konkrete Tipps zur Auflösung einer der beiden Beziehungen finden sich im Artikel über destruktive Beziehungen.
Allerdings bewirkt Punkt 3) nur die Auflösung derjenigen Ambivalenzen, die eine Folge der Daueraffäre darstellen. Diejenigen Ambivalenzen, die ursprünglich zum Eingehen der Daueraffäre beigetragen haben oder bei Punkt 4) jedesmal umschifft werden müssen, wenn eine "Versuchung" droht, bedürfen einer gesonderten Behandlung.
Wie kann man verhindern, dass die nächste "Versuchung" in eine erneute Affäre mündet?
Unbedingt notwendig: Bewusstmachung der Basis-Ambivalenzen, die einen zu dem scheinbaren "Ausweg" aus dem ambivalenten Basis-Gefühlschaos drängen. Eine Affäre wird stets nur deshalb begonnen, weil sie eine scheinbare Lösung anbietet.
Manchmal ist einem nicht einmal das Problem genau bewusst, für das die Affäre eine unbewusst gesuchte Lösung darstellen soll. In diesem Fall sollte man unbedingt so tief wie möglich danach schürfen.
Nur wenn man sich aller tatsächlich vorhandenen ambivalenten Gefühle voll bewusst ist, kann man das Problem und die Scheinbarkeit einer derartigen "Lösung" durchschauen. Richtiges Durchschauen ist gleichzeitig auch ein Spüren, und zwar richtig mit dem Körper spüren, denn Basisgefühle sind mit Schmerz und Freude verknüpft. Hat man die Scheinlösung erst einmal durchschaut und durchspürt und kann sich deshalb ausmalen, was einem später alles an Folgeproblemen blühen wird, dann werden die meisten Menschen ganz freiwillig den für sie einfacheren langfristigen Weg wählen.
Dazu ist notwendig, dass bereits der Gedanke an das Eingehen einer Affäre diejenigen Schmerz-Gefühle wachruft, die man bei seinen bisherigen Affären-Erfahrungen gesammelt hatte und wenigstens nachträglich endlich auch wahrzunehmen gelernt hat.
Ich behaupte: Affären sind keine Folgen von Schwäche, sondern lediglich schlechte Optimierungen, die nur deshalb schlecht sind, weil man nicht alle zukünftigen Gefühls-Konsequenzen vorausfühlen kann, da die Wahrnehmungs-Fähigkeit für die anderen Seiten der Basis-Ambivalenzen (noch) beeinträchtigt ist.
Konsequenz: Auflösung von Verleugnungen und Spaltungen / Dissoziationen sind das A und das O. Weitere Tipps folgen im Schlussabschnitt dieses Artikels.
Diese Frage ist nicht leicht und vor allem nicht einheitlich zu beantworten. Jeder Fall liegt anders, da wir alle Individuen sind.
Wenn ich um eine Stellungnahme zu Tendenzen gebeten werde, dann würde ich folgendes andeuten:
Wenn jemand schon seit 15 Jahren verheiratet ist und bereits seit 10 Jahren ständig Daueraffären hat, von denen der Hauptpartner nichts ahnt, dann kann die Verletzung durch die Aufdeckung so immens ausfallen, dass sie kaum anzuraten ist. Wichtig! nicht aufdecken bedeutet auf gar keinen Fall, dass man alles so lassen soll, wie es ist! Das Schaffen klarer Verhältnisse ist trotzdem ein absolutes Muss! Nur falls die Nebenbeziehung chancenlos ist und die unterschwellige Zerstörung der Hauptbeziehung bereits so weit fortgeschritten ist, dass die Aufdeckung mit ihrer Chance zur Bereinigung gleichzeitig auch ihre letzte Chance darstellt, kann man sich überlegen, ob man es nicht doch wagen sollte. Allerdings wäre in derartigen Fällen auch zu überlegen, ob man nicht beide kaputte Beziehungen beenden und nach der vollständigen Aufarbeitung dieses Desasters eine vollkommen neue Beziehung beginnen sollte, die nicht durch Altlasten beschwert ist und daher langfristig besseres Beziehungsglück ermöglicht.
Steht eine wertvolle Hauptbeziehung (die man erhalten will) jedoch erst am Anfang ihrer Entwicklung und wird sie bereits in dieser Phase von einer geheimen Daueraffäre überschattet, so kann die Folgehypothek dieses Geheimnisses im Laufe der Zeit mit ihren "Zins- und Zinseszinsen" enorm anschwellen (nicht nur für die Dauer-Chancen der Beziehung durch insgeheime Unterhöhlung und unterschwellige Folgedynamiken, sondern beispielsweise auch als unbewusste Erblast für [vorhandene oder evtl. sogar später geborene] Kinder, die dann u.U. die ungelösten Konflikte der Eltern Jahrzehnte später durch Wiederholungszwänge ausagieren können). Dann ist zu überlegen, welche potentiellen Schäden durch die beiden möglichen Wege geringer sind - diejenigen einer einmaligen Aufdeckung mit all ihren Risiken (aber auch Chancen), oder das weitere Verschweigen einer "Leiche im Keller", die die Beziehung unterschwellig (unbewusste Ebene) immer weiter zersetzen kann oder vielleicht irgendwann sogar doch noch als verspätete "Zeitbombe" hochgehen kann (z.B. wenn sich ein Eingeweihter verplappert, oder wenn sich die Ex-Affäre irgendwann nach Jahren für die Abweisung oder das jahrelange Dahinhalten rächt, oder wenn alte vergessene Liebesbriefe beim Umzug entdeckt werden). Dies kann wesentlich größere Schäden (bis hin zu einer Retraumatisierung) anrichten als in der Anfangsphase der Hauptbeziehung, in der beide Partner noch nicht so viel in die Beziehung investiert haben, so dass eine eventuelle Trennung weniger Schaden anrichtet oder vielleicht sogar in Wirklichkeit für beide die langfristig bessere Lösung wäre.
Faustformel: je länger man bei einer laufenden Affäre mit der Aufdeckung wartet, desto höher der Schaden.
Zusatz: je länger man wartet, desto schwerer fällt die "Beichte".
Folgerung: je früher, desto besser!
Wann sollte man ebenfalls aufdecken? Wenn der "betrogene" Partner etwas spürt und bereits dabei ist, die Sache aufzudecken. Normalerweise sendet er Signale seiner Verunsicherung, will Erklärungen für Ungereimtheiten; wenn er damit ganz aufhört oder nur noch krasse Ungereimtheiten anspricht oder gar Anzeichen von Unglauben äußert (die man nicht ignorieren sollte!), ist zu vermuten, dass er (evtl. insgeheim!) den Ausreden und Lügen nicht mehr glaubt. Wer in dieser Situation die Geheimhaltung noch weiter perfektioniert (was zu einer Verschlimmerung der neurotischen Symptome in der Beziehung führt und diese noch stärker untergräbt) und dann hofft, dass der Hauptpartner einem schon nicht auf die Schliche kommen werde, der steuert volle Kraft voraus in eine Katastrophe. Noch schlimmer ist es, dem Partner seinen Unglauben vorzuwerfen (z.B. dass er durch sein "mangelndes Vertrauen" die Beziehung ruinieren würde) - wenn man bei objektiver Betrachtung selber derjenige ist, der die Beziehung durch Affären gefährdet oder gefährdet hat, wird dies ein Desaster bewirken. Wie oben erklärt, kann man sein eigenes Unterbewusstsein und auch dasjenige des Partners nicht belügen. Daher wird der Partner einem über kurz oder lang auf die Schliche kommen! Von dieser Sicherheit sollte man auch dann ausgehen, wenn der Partner sich seiner eigenen ambivalenten Gefühle bisher nicht bewusst geworden ist. Irgendwann wird er ihnen auf den Grund gehen (z.B. in einer Selbsthilfegruppe oder in einer Therapie, oder einfach nur, weil er ein reflektierter Mensch ist oder noch einer wird).
Was auf gar keinen Fall zu empfehlen ist: die Verantwortung von sich wegzuschieben oder gar herumzudrehen, beispielsweise indem man dem Partner vorwirft, vollkommen ungerechtfertigte Befürchtungen und kein Vertrauen in die Beziehungs-Treue zu haben (was einen total tief verletzen würde). Beispiel: meine Ex-Frau hat dieses Spiel sogar noch dann mit mir getrieben, als ich bereits Fotos von einem Seitensprung zu sehen bekommen hatte. Sie hat mir sogar vorgeworfen, krankhafte Wahnvorstellungen zu haben (mit dem, was auf den Bildern zu sehen war, sei doch gar nichts dabei - es waren "lediglich" Umarmungen und Küsse) und durch mein fehlendes Vertrauen in sie die Ehe zu gefährden und sie damit ganz arg tief verletzen (wobei von meinen Verletzungen als Betrogener keine Rede war). Ein derartiges doppeltes Doppelspiel (von dem es auch unzählige andere Varianten gibt) führt nicht nur zu fortschreitender Verwirrung und Verkomplizierung der Lage, sondern projiziert die eigenen Schuldgefühle auf den Partner und zerstört damit die Beziehung noch gründlicher, als sie von der abgestrittenen und weiterhin geheim gehaltenen Affäre ohnehin schon in ihrer Grundsubstanz(!) untergraben war.
Wer bei seiner Beziehung bemerkt, dass sich eine ähnliche Dynamik in Ansätzen gebildet hat, der sollte diese unbedingt frühzeitig unterbrechen (sofern er die Beziehung erhalten will), denn dann ist es eigentlich bereits 5 nach Zwölf.
Es ist immer besser, von sich aus die Initiative zu ergreifen und die Situation aktiv zu klären, als auf die Karte der weiteren Verkomplizierung zu setzen. Was dann mit ziemlicher Sicherheit folgen wird: eine Vereinfachung der Situation, die jedoch vom betrogenen Partner ausgeführt wird. Ob diese Vereinfachung dann so ausfällt, wie man es möchte, ist nicht sehr wahrscheinlich. Wenn man aktiv und konstruktiv mitgestaltet und dazu sogar die Initiative ergreift, stehen die Chancen für die Hauptbeziehung wesentlich besser, sogar um Größenordnungen besser! Denn immerhin signalisiert eine freiwillige Aufdeckung guten Willen und kann Vertrauen schaffen bzw. einen Teil des unbewusst bereits verlorenen Vertrauens wieder wettmachen.
In jedem Falle gilt: wer es wagt, von sich aus aufzudecken und ehrlich zu sein (was gerade erfahrenen Seitenspringern sehr schwer fallen kann, die aus dem bisherigen "Erfolg" der Geheimhaltung heimliche Selbstbestätigung beziehen), der verdient meinen vollen Respekt!
Ich rate dem "betrogenen" Partner, bei einer freiwilligen Aufdeckung durch den "Betrüger" keine Szene zu machen, sondern produktiv an einer Lösung mitzuarbeiten - wie auch immer diese ausfallen mag. Wer ehrlich ist, wird auch auf ehrlichem Wege zu einer gemeinsamen Einschätzung kommen, ob die Beziehung eine weitere Chance verdient oder ob es für beide letztlich besser ist, wenn sie aufgelöst wird.
Kurz und knapp: erst mit dem bisherigen Partner Schluss machen, die Beziehung betrauern und damit verarbeiten (was i.d.R. mehrere Monate, besser >1 Jahr dauert und sowieso gemacht werden muss), und erst danach eine neue Beziehung beginnen!
Diese Vorgehensweise kostet insgesamt die geringsten Ressourcen. Und sie erhöht die Chancen für dauerhaftes Liebesglück in der nächsten Beziehung!
Über destruktive Beziehungen gibt es einen eigenen Artikel (siehe hier).
Wichtige Merkmale von destruktiven Beziehungen sind existentielle Abhängigkeiten vom Partner, die ähnlich wie die weiter oben beschriebenen Abhängigkeiten von Kindern von ihren Eltern wirken. Betroffene haben oft (verdrängte) Existenzangst, wenn sie an Trennung denken würden. Schnarch bezeichnet dieses auch als "siamesische Zwillinge" oder "siamesische Beziehungs-Zwillinge".
Woher kommt diese gegenseitige Abhängigkeit?
Überlebende haben oftmals Beziehungs-Vorbilder gehabt, die grenzüberschreitend waren.
Eine normale Erwachsenen-Beziehung ist hingegen von Gleichberechtigung auf der Existenz-Ebene gekennzeichnet. Jeder erkennt und respektiert die Grenzen des anderen (eigene Reviere). Die Beziehung selbst stellt ein drittes Revier dar, dessen Grenzen nicht in die ureigensten Reviere eines der Partner ausgedehnt werden dürfen.
Bei einer destruktiven Beziehung fehlt meistens bereits die Wahrnehmung der eigenen Grenzen und derjenigen des Partners; das Beziehungs-Revier wird unter scheinbaren Vorwänden weit in das intimste Revier eines Partners (oder beider) ausgedehnt. Im Extremfall kommt einer nicht mehr zum Atmen.
Dies stellt in Wirklichkeit eine Anpassung an die weiter oben beschriebenen Ambivalenzen dar, ohne die man als Kind nicht überlebt hätte. Betroffene hatten zu wenig Gelegenheit, andere Beziehungsmuster einzuüben. Oft kommen existentielle Beziehungs-Ängste hinzu, die im nächsten Abschnitt beschrieben sind, und die eine Loslösung beinahe unmöglich machen.
Manchmal auch "Bindungsangst" genannt. Eine Angst vor der Lösung einer Bindung.
Dahinter steckt nichts anderes als die Angst des Kindes vor dem Verlassenwerden. Denn Verlassenwerden bedeutete in der Steinzeit nichts anderes als Verhungern.
Je schlimmer man als Kind gequält und gedemütigt, sexuell missbraucht und misshandelt wurde, desto größer ist im Regelfall die Angst vor dem Verlassenwerden geworden - denn schließlich sind diese Behandlung in der kindlichen Logik (und auch in der Evolutionsgeschichte der Steinzeit) nichts anderes als Vorboten des drohenden Verlassenwerdens. Diese Verknüpfung ist in der Existenz-Logik der Steinzeit beinahe zwingend!
Daher handelt es sich um eine der urtümlichsten Kräfte des Menschen. Die Ur-Angst schlechthin.
Hiergegen hilft nur eine Gefühlsklärung, bei der ergründet wird, weshalb diese Ur-Angst des kleinen Kindes auch heute in der Erwachsenen-Beziehung auftritt.
Wichtigste Grundregel: beide Seiten einer Ambivalenz haben immer irgendeine Berechtigung (gehabt)!
Wer diese goldene Regel beherzigt, der behandelt auch die schier unglaublichsten Ambivalenz-Seiten (z.B. Täter-Identifikationen) mit Respekt und Wertschätzung.
Wichtig: nicht alle Ambivalenzen müssen (vollständig) aufgelöst werden. Kennzeichen reifer Persönlichkeiten ist, dass sie gewisse Ambivalenzen auch stehen lassen und aushalten können - vor allem solche, die sich prinzipiell nicht ändern lassen (beispielsweise manche Ambivalenzen gegenüber einem Missbrauchs-Täter). Schwere innere Zerrissenheit und Leiden sind jedoch auf Dauer nicht gesund -- eine Entscheidung zwischen (teilweiser) Auflösung und Nicht-Auflösung (wo es sich lohnt, wo es sich nicht lohnt) ist daher nicht immer einfach.
Das Auflösen von hartnäckigen Ambivalenzen erfodert viel Geduld und kann u.U. sehr lange (ohne therapeutische Unterstützung auch Jahre) dauern und kann nur gelingen, wenn man versucht, allen Seiten Rechnung zu tragen. Mit Gewalt funktioniert es nicht, denn eine "ungeliebte" Seite lässt sich nicht überlisten, sie schwelt dann nur im Untergrund weiter und wirkt fort, ohne es zu merken.
Daher ist es unbedingt erforderlich, die Wahrnehmung von verdrängten oder dissoziierten Persönlichkeitsanteilen zu stärken.
Deshalb: das Erkennen von Ambivalenzen hat starke Verwandtschaft mit dem Ekennen von Amnesien und anderen Dissoziationen und benötigt einen integrativen, möglichst ressourcen-orientierten Ansatz.