Innere Abhängigkeit / Klammern / Symbiotische Beziehungen

... wird in extremen Fällen auch als Co-Abhängigkeit bezeichnet. Innere Abhängigkeit kommt bei Überlebenden von physischem oder sexuellem Missbrauch häufig vor und kann das Leben stark beeinträchtigen. Auch Eifersuchts-Kriege oder Borderline-Beziehungsmuster hängen häufig damit zusammen.

Wie äußert sich innere Abhängigkeit?

Nach dem Klischeebild hängen die voneinander Abhängigen "wie die Kletten" zusammen. Manchmal wird dieses Phänomen auch als "symbiotische Beziehung" oder "Verschmelzung" bezeichnet. David Schnarch beschreibt Beziehungs-Abhängige auch als "siamesische Beziehungs-Zwillinge".

Innere Abhängigkeit kann sich jedoch auch ganz anders äußern. Man kann davon betroffen sein, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein.

Wer sich in einer Beziehung dauerhaft unglücklich fühlt, sollte sich fragen, ob dahinter vielleicht eine innere Abhängigkeit stecken könnte. Übrigens können Gefühle von Glück und Unglück auch gleichzeitig in einer (normalen) Partnerschaft vorkommen (siehe Artikel über Ambivalenzen); für eine co-abhängigen Beziehung ist jedoch die extrene Ausprägung charakteristisch. Auch wer viele gescheiterte Beziehungen hinter sich hat ("dauernd gerate ich an den Falschen"), sollte sich mit dieser Frage beschäftigen.

Abhängigkeit von einem anderen Menschen bedeutet, in irgend einer Form auf ihn existentiell angewiesen zu sein und sich nicht mehr wirklich frei entscheiden zu können, sondern ihm ausgeliefert zu sein und getrieben zu werden. Dies kann aber auch unbewusst stattfinden, ohne dass man es bewusst wahrnimmt. Man bekommt dann nur die Auswirkungen der damit verbundenen Konflikte mit (siehe auch Artikel über Ambivalenzen).

Die Art der Abhängigkeit kann sehr unterschiedlich sein und teilweise scheinbar gegenteilige Phänomene hervorbringen. Der eine möchte beispielsweise vom Partner geliebt und wertgeschätzt werden und tut dafür beinahe alles, bis hin zur Selbstzerstörung. Der andere verlangt die ständige Anwesenheit und Verfügbarkeit des Partners als "Dienstleister" (z.B. auf finanziellem, emotionalem, oder auch auf sexuellem Gebiet), und holt sich sein vermeintliches "Anrecht" im Extremfall durch Gewalt (z.B. Vergewaltigung in der Ehe etc., aber auch psychische Gewalt). Auch der misshandelnde und ausbeutende Partner ist in Wahrheit oft innerlich existentiell abhängig.

Existentielle Abhängigkeit führt besonders dann zu schweren unlösbaren inneren und äußeren Konflikten, wenn die Beziehung destruktiven und ausbeuterischen Charakter annimmt. Die Konflikte können sich z.B. als "Dauerstreit" äußern, aber auch ganz im Gegenteil als Unfähigkeit, sich zu streiten oder sich zu wehren (und stattdessen "auszuharren" und "durchzuhalten"). Bei Überlebenden kommt es häufig zu einer Trennung in extreme Rollen: der eine Partner spielt oft die "Täterrolle", der andere die "Opferrolle"; manchmal wechseln sich diese Rollen auch ab. Wenn sich diese ungleiche Rollenverteilung über längere Zeit nicht auflöst, dann kann mit hoher Wahrscheinlichkeit eine innere existentielle Abhängigkeit mit im Spiel sein. Aber auch ohne extreme Rollentrennung kann eine innere Abhängigkeit bestehen. Gelegentlich schwelt eine gegenseitige innere Abhängigkeit jahrelang im Verborgenen, bevor es zur Eskalation kommt. Diesen Fall habe ich selber erlebt; wenn ich auf die richtigen Anzeichen geachtet hätte, hätte ich das schon früher erkennen und mir einiges Leid ersparen können.

Eine Sonderform der inneren Abhängigkeit ist die Mitgliedschaft bei Sekten und anderen Vereinigungen, die ihre Mitglieder ausbeuten oder bei denen sich Mitglieder selbst ausbeuten. Leider kommt dies gerade bei Überlebenden sehr häufig vor. Sekten aller Art betreiben diese Ausbeutung jedoch systematisch und binden ihre Mitglieder absichtlich durch innere existentielle Abhängigkeit an sich. Die Loslösung aus solchen Strukturen ist meist besonders schwer; auf die Sonder-Probleme dieses Bereiches kann hier leider nicht näher eingegangen werden.

Ein weiteres Problem sind die häufig bei Überlebenden vorkommenden Umdeutungen und Verdrehungen der Wahrnehmung, die einen eine co-abhängige Beziehung gar nicht als solche erscheinen und erkennen lassen. Manchmal gelingt es einem ausbeutenden Partner (ähnlich wie bei Sekten), die Ausbeutung der existentiellen Abhängigkeit als etwas ganz anderes darzustellen. Überlebende haben oftmals besondere Schwierigkeiten, Abhängigkeiten zu durchschauen. Die alten Täter-Verdrehungen wirken oft sehr unterschwellig nach.

Risiko-Faktoren

Das Risiko, in eine innerlich abhängige Beziehung zu geraten, wird erhöht, wenn

Weshalb werden erwachsene Menschen von anderen existentiell abhängig?

Das Urmuster beginnt fast immer in der Kindheit. Kleine Kinder sind von Natur aus von ihren Eltern oder anderen Versorgern existentiell abhängig.

Wenn es in dieser Ur-Beziehung an echter Nähe und innerer Zuwendung mangelt, versucht das Kind, dieses Defizit irgendwie auszugleichen. Familiärer sexueller Missbrauch (Inzest) findet fast immer in einem Klima mangelhafter Geborgenheit und Zuwendung statt. Statt positiver Zuwendung erhält das Kind beim Missbrauch negative Zuwendung (auch wenn das von Tätern und Pädophilen / Lobbyisten anders dargestellt wird). Sexuelle Ausbeutung erhöht das Zuwendungs-Defizit nur weiter.

Wird das Zuwendungs-Defizit nicht ausgeglichen, dann sucht später das erwachsen gewordene Kind nach einem Ausgleich. Es sucht sich unbewusst einen Partner, der anscheinend genau diesen Ausgleich "nachliefern" kann. Dies wird auch und gerade dann begünstigt, wenn der kindliche Missbrauch verdrängt, abgespalten oder dissoziiert ist.

Doch leider sind gerade die meisten Partner, die sich als "Versorger" zum Ausgleich der unbewussten Zuwendungs-Wünsche anbieten, selbst solche unterversorgte Kinder gewesen (auch wenn sie nicht missbraucht worden sind). Damit entsteht eine Konstellation, die früher oder später unweigerlich in eine Katastrophe münden wird. Auch wenn es nicht zum großen Krach kommt, so wird doch gerade der Zuwendungs-Wunsch nicht wirklich vom Partner erfüllt (weil er das gar nicht kann, sondern selber bedürftig ist), und es kommt zu einem Dauer-Leiden in der Beziehung.

Eine weitere Erklärung: wer als Kind kaum andere Beziehungs-Vorbilder als voneinander abhängige hatte, wird diesen Vorbildern sehr wahrscheinlich nacheifern (siehe Spruch über Kinder-Erziehung). Wer physische, emotionale oder sexuelle Ausbeutung während der natürlichen kindlichen Abhängigkeits-Phase erlebt hat, empfindet das Überschreiten von zwischenmenschlichen Grenzen häufig als "normal". (Co-)Abhängigkeit zwischen Erwachsenen lässt sich auch als Dauer-Auflösung der natürlichen Schutz-Grenzen der Persönlichkeit beschreiben. Deswegen führt die Abhängigkeit ja auch zu Leiden. Ein existentiell Abhängiger lässt sich lieber vom anderen niedermachen, als dass er die scheinbar lebensnotwendige Beziehung emotional in Frage stellen kann.

Und noch eine Erklärung: existentielle Abhängigkeit gehört zu den "natürlichen" Verhaltensmustern des Nachwuchses (auch im Tierreich). Das bedeutet, dass man Entwicklungs-Aufwand betreiben muss, um vom kindlichen Verhalten wegzukommen und das Erwachsenen-Verhalten einzuüben. Physischer oder sexueller Missbrauch hemmt und schädigt die natürliche Entwicklung jedoch auf vielen Gebieten; ganze Entwicklungs-Zweige und -Gebiete werden behindert oder sterben ab (letzteres besonders bei schweren Trauma-Folgen). Daher wird sich ein großer Teil der Therapie auf das Auflösen der trauma-bedingten Entwicklungs-Blockaden und das Nachholen der Entwicklung von Erwachsenen-Fähigkeiten konzentrieren müssen, die vom Täter abgeschnitten wurden. Allerdings wäre es zu einfach, das Problem der Co-Abhängigkeit ausschließlich als Entwicklungs-Aufgabe zu sehen. Es ist aber auch eine Entwicklungs-Aufgabe.

Was kann man gegen innere Abhängigkeit tun?

In leichteren Fällen kann eine Familien- oder Paartherapie hilfreich sein; dazu ist jedoch notwendig, dass beide Partner daran mitarbeiten wollen.

Wenn eine existentiell abhängige Beziehung jedoch destruktiv und ausbeuterisch geworden ist, muss man sich zuerst daraus lösen, auch wenn es schwer fällt. Sonst geht das Leiden immer weiter.

Sodann steht die Frage an, wie man verhindern kann, dass sich das gleiche Muster bei der nächsten Beziehung wiederholt. Wenn man nichts gegen die Ursachen unternimmt, ist leider die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass auch die nächste Beziehung in irgendeiner Form einen abhängigen oder ausbeuterischen Charakter haben wird (ohne dass man das bemerken muss).

Sexueller Missbrauch schädigt auf so vielen Gebieten so tief, dass man ohne Therapie kaum auskommen wird. Dabei sollte man auch die Abhängigkeiten angehen. Ein gute Therapie stärkt das eigene Ich (ressourcen-orientiertes Vorgehen) Man wird weniger auf andere angewiesen.

Als Überlebender sollte man sich sowieso in der eigenen Beelterung üben. Dies wird in vielen gängigen Büchern zur Heilung aus sexuellem Missbrauch empfohlen, um aus Depressionen und Dekompensationen herauszukommen. Nach meiner Erfahrung ist das aber auch ein sehr gutes Mittel, seine innere Abhängigkeit von anderen Menschen, auch von (potentiellen) Partnern, zu reduzieren. Wer sich selbst (und sein inneres Kind) beeltert, muss das Zuwendungs-Defizit nicht mehr von anderen ausgleichen lassen.

Der einzig wirklich verlässliche Partner, der einem echte Zuwendung und echten Selbstwert geben kann, ist man selbst. Keiner steht dir so nahe wie du selbst!

Nutze diese Binsenweisheit, fange an, dich selber glücklich zu machen, anstatt auf das Glück durch andere Menschen zu warten, die dich doch bisher viel zu oft nur im Stich gelassen oder dich ausgenutzt haben.

Literatur

Melody Beatty: Die Sucht gebraucht zu werden. Heyne Verlag 1990.

Sven Wahlroos: Familienglück kann jeder lernen. Fischer Taschenbuch, 1980.