Die Frage, ob man dem Täter nach einem sexuellen Missbrauch verzeihen soll / kann / darf, taucht in Büchern und Diskussionsforen immer wieder auf. Anscheinend bewegt diese Frage viele Gemüter sehr heftig. In diesem Artikel geht es jedoch um eine andere, meines Erachtens sehr viel wichtigere Frage:
Vorab: wenn man nur dem Täter verzeiht, sich selbst aber nicht, dann ist irgendetwas total schiefgelaufen. So kann es nicht gehen!
Die Selbst-Verzeihung ist also unbedingte Voraussetzung, um über die andere Frage der Täter-Verzeihung überhaupt nachdenken zu können (sofern man das will).
Viele Leute glauben, sie hätten sich selbst verziehen. Wenn dieser Glaube bei einem selbst vorhanden ist, folgt daraus jedoch nicht, dass man sich selber tatsächlich und vollständig verziehen hat. Niemand kennt sich selber und alle seine Winkel und Verstecke ganz genau! Zum einen haben wir alle ein Unterbewusstsein, zum anderen ist der Zugang zu Teilen der eigenen Persönlichkeit(en) gerade bei Überlebenden von sexuellem Missbrauch oft durch Abspaltung und Dissoziation erschwert. Kaum etwas geht so tief ins Innere und schädigt einen Menschen in so tiefen Schichten wie sexueller Missbrauch. Er wird daher ja auch als Seelenmord bezeichnet. Wie die moderne Hirnforschung nachgewiesen hat, schädigt es u.a. die impliziten Gedächtnisse in stammesgeschichtlich sehr alten Regionen des Kleinhirns, und zwar u.U. auch dauerhaft (teilweise irreversibel = unumkehrbar). Die Schäden können auch ohne weiteres bis in körperliche Schichten hinabgehen, ohne dass man sich dessen bewusst zu sein braucht (dauerhafte Trennung bzw. Umverdrahtung von Verbindungen im Gehirn als Folge der erlittenen Traumata).
Hinzu kommt ein weiteres Problem, das fast alle Überlebenden haben, ohne dass ihnen die Ursache vollständig bewusst sein muss und ohne es unbedingt steuern zu können: Die eigenen unbewussten Aggressionen auf sich selber! Sexueller Missbrauch von Kindern führt fast immer dazu, dass sich das Kind selber zumindest einen Teil der Schuld gibt. Das kann so tief im Unterbewusstsein und abgespalten geschehen, dass man sich selber dessen überhaupt nicht bewusst ist!
Wer sich selbst beschädigt (z.B. Ritzen), wer "psychosomatische Krankheiten" wie Neurodermitis oder andere Konversions-Krankheiten hat, der sollte das als ernste Warnung nehmen, dass im Verhältnis zu sich selber irgendetwas nicht im Lot sein könnte. Menschen (mich eingeschlossen) machen sich auf keinem anderen Gebiet soviel selber vor als auf diesem!
Selbstvorwürfe können sich auf viele Arten vor einem selber verstecken. Wenn man sich über längere Zeiträume hinweg schlecht, unzulänglich, nicht wertvoll, unnütz, unwert, getriggert, außer sich, schlecht gelaunt, unter heftigem Erwartungsdruck und ähnlich fühlt, sind das Anzeichen für versteckte Selbstvorwürfe, Schuld- und Schamgefühle.
Wer versteckte Selbstvorwürfe mit sich herumschleppt, der hat sich selber nicht wirklich verziehen.
Wie also kommt man dazu, dass man sich selber verzeiht?
Antwort: sowas kostet viel Mühe und dauert im Regelfall Jahre. Ohne therapeutische Hilfe ist das bei so schwerwiegenden Traumatisierungen wie sexuellem Missbrauch wohl kaum zu schaffen.
Ein kleiner Trost: Verzeihung ist keine Ja-Nein-Entscheidung, sondern ein Vorgang, der über viele Zwischenstationen abläuft. Verzeihung ist noch nicht mal eine Willensentscheidung. Man kann nicht einfach beschließen, "so, jetzt verzeihe ich mir". Das funktioniert nicht. Keiner lernt Klavierspielen einfach dadurch, dass er beschließt, es nun zu können. Man muss es üben.
Den Umgang mit sich selbst kann man durch therapeutische Arbeit relativ rasch verbessern. Je liebevoller man mit sich selber umgeht, desto näher kommt man dem Ziel, sich selbst immer mehr vergeben zu können.
Wenn man von diesem Ziel nicht mehr weit entfernt ist, verliert die Frage der Täter-Verzeihung ihre scheinbare Bedeutung.
Deswegen sollte man sehr vorsichtig bei Leuten sein, die der Täter-Verzeihung mehr Gewicht als der Selbst-Verzeihung geben. Wenn man sich von anderen dazu verleiten lässt, die Selbst-Verzeihung zu vernachlässigen, dann kann man nicht wirklich heilen. Es kann einem sogar schaden. Besonders fatale Folgen kann so etwas haben, wenn es von Therapeuten ausgeübt wird (Behandlungsfehler), oder wenn es etwa von ganzen Therapie-Richtungen und -Schulen propagiert wird (siehe Fußnote in diesem Artikel) oder wenn es wie bei Hellinger ideologisch verbrämt wird.
Darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen.
Ver-zeihen bedeutet vom Wortstamm her, jemandem nicht mehr zu zeihen. Das altertümliche Wort "zeihen" kommt heute in der Umgangssprache kaum noch vor (höchstens in Formen wie "jemand hat mich der Lüge geziehen"). Es bedeutet soviel wie "beschuldigen", "bezichtigen".
Ver-zeihen bedeutet daher ursprünglich eigentlich nicht, dass man eine Tat vergessen hat, ebenso nicht, dass sie vergeben ist - es bedeutet eigentlich ursprünglich nur, dass man keine Bezichtigungen mehr vorbringt (äußert). In der heutigen Umgangssprache bedeutet Verzeihen jedoch u.U. auch etwas anderes: es kann Aspekte von Vergebung, Versöhnung, Entschuldigung, Vergessen, Nicht-mehr-davon-sprechen-wollen (Ignorieren / Funkstille), und vieles andere enthalten. Darüber gibt es auch unterschiedliche Auffassungen.
In der Gefühlswelt gibt es noch sehr viele weitere Varianten, wie die Gefühle zum Täter beschaffen sein können. Manches lässt sich durch die einfachen Worte unserer Sprache gar nicht beschreiben, weil es für manche Gefühle (besonders bei Inzest-Betroffenen) gar keine Worte gibt.
Das Operieren mit vereinfachenden Begriffen wie "Vergebung", "Verzeihen", "Versöhnung" u.ä. kann daher auch an Gefühlsrealitäten vorbeigehen.
Weiterhin sehen manche den Sinn des Verzeihens darin, die Beziehung zum Täter wieder in Ordnung zu bringen, und definieren den Erfolg einer Verzeihung entsprechend, d.h. von der Beziehungsdynamik her. Diese Sichtweise ist jedoch dafür anfällig, innerliche Gefühle zu unterschätzen oder ihre Bedeutung sogar ganz zu unterschlagen.
Stelle die Frage, wem eine Täter-Verzeihung nützt. Dem Täter nützt sie auf jeden Fall. Falls jemand oder eine Weltanschauung dich (unterschwellig) zum Verzeihen überreden will, dann stelle die Frage, wessen Partei da vielleicht in Wirklichkeit ergriffen wird. Falls jemand argumentiert, dass er ja nur dem Opfer helfen wolle: mache dir klar, dass die Aufarbeitung abgespaltener / dissoziierter Gefühle um Größenordnungen wichtiger ist, ohne die eine gleichwertige Beziehung zum Täter von vornherein völlig unmöglich ist! Ganz abgesehen davon, ob eine solche Beziehung überhaupt wünschenswert ist.
Ungleichgewichtige Beziehungs-Verhältnisse zugunsten des Täters (die oft vom Opfer gar nicht bemerkt werden), die dieser auf dem Schleichweg der vorgeblichen Verzeihung erreicht oder gefestigt hat, tragen den Charakter der Wiederholung und können dir schaden! Ein wesentliches Kern-Merkmal von sexuellem oder physischem Missbrauch ist ja gerade die Ungleichgewichtigkeit der Beziehung bei der Ausführung der Tat! Wenn ein angeblicher Helfer dieses Risiko der stukturellen Ähnlichkeit einer "Verzeihung" mit den Tat-Beziehungsstrukturen nicht sehen will oder es bagatellisiert, suche dir andere Helfer!
Ein Therapeut, der auch nur unterschwellig Andeutungen macht, dass man über die Frage der Täter-Verzeihung (oder in der christlichen Variante "Versöhnung") nachdenken sollte, ist für die Behandlung von sexuellem Missbrauch ungeeignet. Eine "falsche" oder gar (gegen dissoziativ abgespaltene Persönlichkeits-Anteile ideologisch) erzwungene Täter-Verzeihung kann einen im Heilungsprozess um Jahre zurückwerfen. Es gibt sehr viel wichtigere Fragen mit wirklich existentieller Bedeutung für Überlebende. Allenfalls kann sich die Frage nach der Täter-Verzeihung am Ende der Therapie stellen. Am Anfang ist es dagegen ein gefährliches Gift. Außerdem ist Täter-Verzeihung zur Heilung generell nicht notwendig! Dies wird von mehreren Therapie-Richtungen und Experten ausdrücklich bestätigt (u.a. Alice Miller, Ursula Enders, ....... die Liste lässt sich fast beliebig fortsetzen).
Wichtiger Hinweis: einige christliche Autoren wie z.B. Anselm Grün behaupten oder suggerieren, man könne nur inneren Frieden finden, wenn man verzeihe. Dies ist (auch laut Konsens mehrerer Therapie-Experten) definitiv falsch! Eine falsche, viel zu frühe, vielleicht sogar überhaupt nicht mögliche Verzeihung (z.B. weil der Täter uneinsichtig ist / leugnet / bagatellisiert / verdreht oder vielleicht sogar weiterhin Kinder missbraucht) stört im Regelfall den inneren Frieden des Opfers ganz massiv, und zwar weil man u.a. suggeriert bekommt, man wäre nicht fähig zu verzeihen! Die durch das Lesen derartiger Bücher suggerierte angebliche "Unfähigkeit" zur Verzeihung kann ganz massive Schuldgefühle auslösen. Auf diesem Weise kann man im Teufelskreis der ursprünglich vom Täter ausgehenden Schuld- und Schamgefühle hängen bleiben und gerade dadurch nicht wirklich fähig zu einer (nicht unbedingt notwendigen) Verzeihung werden!
Selbst nach katholischer Lehre (z.B. die Lehre von den fünf b's) sind vor der Vergebung mehrere Vorbedingungen zu erfüllen, damit Gott (nicht ein Mensch!) jemandem verzeihen kann. Die wichtigsten davon sind Einsicht in die Schuld (Bereuen), das (im Urchristentum sogar öffentliche) Bekennen der Schuld, und das Wiedergutmachen des eingetretenen Schadens. Sind diese Bedingungen nicht erfüllt, dann ist nach katholischer Lehre keine sakramentale Absolution möglich. Dies scheint wohl den Leuten nicht bekannt zu sein, die immer wieder fordern, Opfer müssten ihren Tätern bedingungslos aus freien Stücken verzeihen!Viele Überlebende sind und bleiben stabiler, wenn sie ihrem Peiniger nicht verzeihen. Wenn sich ein Therapeut selbst beherrscht und die Frage anfangs nicht thematisiert, dabei aber unbewusst auf eine bestimmte Lösung dieser Frage hinarbeitet, ist das ebenfalls schädlich.
Deshalb: Kümmere dich nicht um den Täter. Fange an, dich selbst gut zu behandeln. Werde wie ein guter Vater und eine gute Mutter zu dir selber. Das hilft dir mehr als alles andere!