Verharmlosungen

Verharmlosungen (im Fachjargon auch Bagatellisierungen genannt) kommen bei allen Beteiligten einer Missbrauchs-Dynamik vor, sowohl bei Tätern als auch bei Opfern. Sie dienen jedoch unterschiedlichen Zwecken: Täter wollen z.B. ihr Selbstbild des "lieben" und "guten" Elternteils bzw. "Freundes" behalten und "bewerten" ihre Tat, die dem widersprechen würde, deshalb vollkommen falsch und geben ihr eine andere, viel harmlosere oder im Extremfall sogar eine "positive" Bedeutung (z.B. "glaubte" meine Mutter, dass sie mir etwas wichtiges für später "beibringen" würde, wenn ich "damit" Erfahrungen hätte; siehe auch Verdrehungen). Für Opfer ist die Tat wiederum oft so schmerzlich, dass sie mit Hilfe von Verharmlosungen und Umdeutungen leichter erträglich wird. Dadurch kommt es manchmal zu einer unheilvollen Allianz zwischen Opfer und Täter, bei der keiner ein Interesse an einer angemessenen Bewertung der Tat und an der Aufdeckung und Aufarbeitung hat.

Eine Sonderform der Verharmlosung ist die Umdeutung. Ich habe einigen meiner Kindheits-Erlebnisse eine andere Bedeutung gegeben als sie wirklich hatten. Beispielsweise hatte ich weder den Missbrauch durch den "Freund der Familie" noch den durch den Jugendleiter einer katholischen Jugendgruppe verdrängt. Ich wusste die Fakten, aber ich interpretierte sie nicht als Missbrauch, nicht als Übergriff und Angriff auf mich und meine Persönlichkeit. Beinahe so, als könne das jedem passieren; war halt so ein Erlebnis, das scheinbar keine Bedeutung gehabt habe.

Ähnliche Formen der Verharmlosung kann ich zur Zeit bei meinen Geschwistern beobachten: alle wissen von meinem Missbrauch, keiner streitet ihn ab; von einer meiner Schwestern habe ich sogar unterstützendes Erinnerungs-Material bekommen. Trotzdem sehen sie es nicht als Verbrechen, pflegen "normale" Kontakte zu meinen Eltern und haben auch keinerlei Bedenken, ihre Kinder bei ihnen alleine zur Aufsicht zu lassen. Schliesslich sind sie ja selber (angeblich) gar nicht betroffen, sondern nur ich! Ich weiß aber, dass mindestens mein Bruder ebenfalls betroffen ist, und laut eigener Aussage meiner Mutter ist (mindestens) eine meiner Schwestern ebenfalls betroffen. Vor einiger Zeit schilderte mir eine meiner Schwestern ganz lakonisch, wie der "Freund der Familie", der mich missbraucht hat, auch an ihr rumgefummelt hat. So nach dem Motto "ja und? kann doch jedem passieren!"

Fehlte nur noch der Nachsatz "hat mir doch gar nicht geschadet".

Jede sexuelle Grenzüberschreitung gegenüber einem Kind ist schädlich, zumindest für die psychosexuelle Entwicklung des Kindes.

Neulich faselte meine Schwester etwas von einem "Ausrutscher" meiner Mutter. Als ich ihr darauf erklärte, dass der Missbrauch über Wochen andauerte und sich mehrmals wiederholte, wobei meine Mutter eine zielgerichtete Terminplanung betrieb (immer wenn mein Vater außer Haus war), guckte sie nur erstaunt und zuckte mit den Schultern.

Sexueller Missbrauch von Kindern ist alles andere als "normal". Wie oft habe ich schon zu hören gekriegt, dass es angeblich in jeder Familie irgendetwas gäbe. Irgendetwas komme doch "immer" in den "besten Familien" vor.

Eins ist sicher: eine Inzestfamilie gehört ganz sicher nicht zu den "besten Familien". Hinter einer scheinbar glänzenden Fassade sieht es in Wahrheit ganz anders aus.

Zur Fassade meiner Herkunftsfamilie gehörte das Musizieren und Ballett-Vorführungen. Während meiner Schulzeit sind wir oft bei Festen als volkstümliche Stubenmusik aufgetreten. Was in dieser Familie wirklich vor sich ging, war etwas anderes. Wegen dieser Diskrepanz, einem falschen idyllischen Familien-Selbstbild, war es für mich am Anfang beim Hochkommen der Erinnerungen sehr schwer, ihnen zu glauben.

Es ist natürlich immer leichter, Verharmlosungen bei anderen zu erkennen als bei sich selber. Weil man Verharmlosungen bei sich selber kaum auffinden und bearbeiten kann, ist Therapie besonders wichtig.