Leugnungen

auch durch Therapeuten und Fachbuch-Autoren

Leugnungen treten sowohl bei Überlebenden von sexuellem Missbrauch als auch in ihrer sozialen Umgebung auf (bei Pädophilen und Tätern natürlich sowieso). Ich werde hier nur andeuten können, welche Folgen es für Opfer haben kann, wenn das auch bei Therapeuten oder bei Leuten auftritt, die Therapeuten ausbilden.

Es gibt (teilweise sogar sehr renommierte!) Fachbücher, die betonen immer wieder an mehreren Stellen, wie unzuverlässig doch unser Gedächtnis ist, und wie leicht sogenannte falsche Erinnerungen entstehen können. Es werden Autoren wie Loftus und Schriften der False Memory Syndrome Foundation zitiert. Und es wird darauf hingewiesen, welche schwere Folgen es doch haben kann, wenn engste Familienangehörige zu Unrecht der Täterschaft von sexuellem Missbrauch beschuldigt werden.

Wovon in solchen Büchern kaum bis gar nicht die Rede ist: welche Folgen es für Opfer von sexuellem Missbrauch und anderen Gewalttaten haben kann, wenn ihnen nicht geglaubt wird.

Ich versuche einen ersten Zugang zu den Gefühlen von Opfern durch folgendes Beispiel zu vermitteln: Jeder kennt die Behauptung der sogenannten "Auschwitz-Lüge". Versuchen Sie sich einmal in jemanden hineinzuversetzen, der selber in einem KZ gesessen hat und "live" erlebt hat, wie seine Verwandten und Bekannten umgebracht wurden, wie er selber kurz davor stand, und wie er das nur durch ein Wunder überlebt hat. Und nun kommen irgendwelche Leute daher und behaupten, das würde alles gar nicht stimmen; die KZs hätte es nie gegeben, bzw. in ihnen hätte etwas ganz anderes stattgefunden, und da wären nur sogenannte "Kriminelle" drin gewesen ..... ja mein Gott, braucht man denn noch andere Beweise als die öffentlichen Reden Hitlers, wo die sogenannte "Endlösung" klar und deutlich öffentlich angekündigt wurde????

Bitte versetzen Sie sich einmal probehalber in ein KZ-Opfer hinein. Leider leben heute nicht mehr viele dieser Opfer, und bald wird man es nur noch vom Hörensagen kennen. Aber vielleicht haben Sie schon einmal die Gesichtsausdrücke von KZ-Überlebenden im Fernsehen gesehen.

Jetzt nehmen Sie einmal zu dieser Situation noch folgende Problematik hinzu: viele Opfer leugnen selber und verdrängen selber. Dies wurde im großen Stil bei Überlebenden des Angriffs auf Pearl Harbor nachgewiesen: etwa die Hälfte der Kriegsveteranen, die sich laut Akten zum Zeitpunkt des Angriffs nachweislich dort befanden, leugneten zumindest zeitweise, jemals überhaupt dort gewesen zu sein! Einige leugneten das sogar dauerhaft!

Ob dieses für Laien total erstaunliche und beinahe unglaubliche Phänomen nun auf Dissoziation / PTBS oder auf Freudsche Abwehr des Traumas zurückgeht, ist hier total nebensächlich. Entscheidend ist, dass Opfer selbst ein Problem damit haben, die Realität anzuerkennen!

Versuchen Sie einmal, sich in ein Opfer hineinzuversetzen, das total am Zweifeln und am Verzweifeln ist. In der sozialen Umgebung wird ihm teilweise nicht geglaubt bzw. es wird unter Druck gesetzt und beschuldigt, die Familie zu zerstören usw. Dazu kommen noch die Schuldgefühle, selber am Missbrauch beteiligt gewesen zu sein und "mitgemacht" zu haben. Nach langem Zögern traut sich das Opfer endlich, eine Therapie zu beginnen. Und dann ..... der Therapeut glaubt ihm auch nicht!!!

Alles nur hypothetisch? Hier sind von mir selbst erlebte

Beispiele:

Beispiel 1

Fast ein Jahr nach dem Hochkommen meiner ersten Erinnerungen an den Missbrauch durch meine Mutter wagte ich es endlich, mit einem Therapeuten Kontakt aufzunehmen. Ich war damals in einem Zustand der totalen Dekompensation und hatte Flashbacks. Mein allererster Kontakt war per Email zu einem im Internet präsenten Therapeuten. Ich schilderte einige Grundzüge meiner Erinnerungen (schließlich wollte ich offensiv an meine Traumata herangehen, wie in der Literatur empfohlen). Er ging darauf nicht ein, statt dessen aber auf das sogenannte "False Memory Syndrome".

Darauf recherchierte ich nach Therapeuten in einer Internet-Datenbank. Hier sind zwei Telefongespräche:

Beispiel 2

Ich rufe in einer Gemeinschaftspraxis an und frage, ob der in der Datenbank eingetragene Kollege X auch praktische Erfahrungen mit der Therapie von sexuellem Missbrauch hat. Antwort: wie kommen sie denn darauf? Ich: ich habe in der Internet-Datenbank nach diesem Stichwort gesucht und suche einen Experten auf diesem Gebiet. Er: Wie, stehen wir im Internet unter sexuellem Missbrauch drin? Ich: ja, deswegen rufe ich doch an. Er in total entrüstetem Tonfall: Nein, SOWAS machen WIR doch nicht!

Ich habs dann gerade noch irgendwie geschafft, das Gespräch höflich zu beenden. Ich kam mir vor wie der allerletzte Abschaum der Menschheit.

Beispiel 3

Ich rufe bei einem sehr netten Therapeuten an und unterhalte mich bereits ein ganze Weile mit ihm. Beim Stichwort Missbrauch zuckte er überhaupt nicht, sondern nimmt das alles ganz normal, und ja, er hat Erfahrungen mit dieser Art von Therapie, usw. Irgendwann gings ein klein wenig mehr in die Umstände hinein, und er stellte mir eine Frage (deren genauen Wortlaut ich vergessen habe), in der aber das Wort "Bewährungshelfer" drin vorkam. Das machte mich sehr stutzig. Was hab ich denn mit einem Bewährungshelfer zu tun? Er wurde darauf auch ein wenig verlegen, und meinte, dass er das nur daraus geschlossen habe, weil ich doch wegen sexuellem Missbrauch zu ihm wolle. Darauf dämmerte mir etwas, und ich fragte ihn, ob er gemeint habe, dass ich vielleicht eine Täter-Therapie machen wolle. Er bestätigte und fügte sofort hinzu, dass er auch mit der Therapie von Opfern große Erfahrungen hätte. Mein Interesse war aber rapide gesunken: ich kann mir niemals vorstellen, eine Therapie bei jemandem zu machen, dessen Aufgabe es ist, sich in Täter hineinzufühlen, und der gleich beim ersten Kontakt denkt, ich wäre so einer. Da hatte ich Bedenken, ob er sich in gleichem Maße auch in mich als Opfer einfühlen kann.

Beispiel 4

Mein krassestes Erlebnis mit Therapeuten war das folgende:

Bei einem weiteren Therapeuten, der mir von dieser Internet-Datenbank empfohlen worden war, machte ich zwei Probestunden (mein erster realer Therapeuten-Kontakt als Erwachsener). Der Therapeut war sehr nett; er erklärte mir, dass er absoluter Fachmann für sexuellen Missbrauch sei, er habe die Kassenzulassung in allen drei Therapie-Arten und darüber hinaus viele weitere Kurse und Seminare in weiteren Therapie-Richtungen gemacht. Er sei auch Experte für Sexualtherapie und könne mir auch auf diesem Gebiet helfen, wenn es da Probleme gäbe. Dann kam das Gespräch auf meine Familie. Scheinbar imponierte ihm, dass das eine christliche Familie war. Als er mich fragte, ob ich Christ sei, antwortete ich, dass ich Christ war. Den feinen Unterschied in meiner Antwort schien er nicht zu bemerken, und ich wollte seiner Begeisterung über das Christentum auch keinen Abbruch tun. Hauptsache, er konnte mit sexuellem Missbrauch umgehen und mich aus dieser gottverdammten Krise führen, wegen der ich zu ihm kam.

In die zweite Stunde nahm ich die Briefe mit, die ich fast ein Jahr vorher an meine Mutter geschrieben hatte. Bevor ich sie ihm geben wollte (einfach um den Einstieg zu erleichtern und um erstmal über ES nicht reden zu müssen, sondern den sehr viel einfacheren schriftlichen Weg zu versuchen), fühlte ich bei ihm vor und erwähnte, dass ich von meiner Mutter missbraucht worden bin. Er darauf kategorisch und mit bestimmtem Blick: Frauen tun sowas nicht!

Das versetzte mir einen tiefen Stoß. Ich versuchte, mich zu verteidigen und sagte, dass meine Mutter das aber auf meine Briefe hin zugegeben hatte, und dass es deswegen nicht falsch sein kann! Darauf meinte er, dass sie das sicher nur wegen ihrer christlichen Grundhaltung zugegeben hätte, um mir meine Schuldgefühle abzunehmen.

Wumm! Das war ein Volltreffer.

Mein Hals schnürte sich zu. Panik stieg in mir auf.

In meine Unfähigkeit hinein, darauf eine nicht-stammelnde Antwort zu geben, fing er an, mir Theorien über Identifikation und dergleichen zu erklären, aufgrund deren meine Mutter das fälschlich zugegeben haben müsse, die ich aber in dem Zustand, in dem ich war, weder verstehen noch in meinem Gedächtnis behalten konnte.

Am Ende der Stunde gab ich ihm dann leider die Briefe doch noch, da sich meine innere Panik weiter verstärkt hatte, als er in anderem Zusammenhang die Bemerkung machte "ob ich wohl paranoid wäre" und dabei auf ein ziemlich benutzt aussehendes Buch mit einem Titel in der Richtung "Handbuch der Erstdiagnose in der Psychiatrie" oder so ähnlich deutete (den genauen Autor und Titel habe ich mir verständlicherweise nicht gemerkt). Ich dachte wirklich, jetzt weist er mich in die Psychiatrie ein.

Die volle Panik kam erst einen Tag später, als ich anfing, mir selber die Schuld für meinen Zustand zu geben und befürchtete, mich selber zu Grunde zu richten, wenn ich nicht in die von einem Fachmann festgestellte "dringend notwendige" Psychiatrie-Einweisung einwilligen würde. Mein Selbstvertrauen war vollends hinüber. Dass ich schon vorher in einem Zustand der Dekompensation gewesen war, den er durch seine Panik-Auslöser noch verstärkt hatte, und dass ich unter akuten PTBS-Symptomen litt, war mir damals noch nicht klar; er schien auch nicht auf diese Idee gekommen zu sein.

Gegenbeispiel

Ein anderer Überlebender aus einer Internet-Mailingliste hat mich dann zum Glück wieder halbwegs aufgebaut und darin bestärkt, diesem Therapeuten schriftlich abzusagen und mich trotzdem weiter auf die Thera-Suche zu machen. Eigentlich wollte ich überhaupt keinen Therapie-Versuch mehr unternehmen. Ich spielte bereits mit Gedanken, meinem Leben ein Ende zu machen. Mein Verstand und mein Selbsterhaltungstrieb hielten mich zum Glück davon ab.

Dann habe ich mich durch das gute Zureden des Internet-Bekannten dazu aufgerafft, bei einem Verein anzurufen, der parteiisch für Überlebende arbeitet. Leider war vor Ort nichts zu finden, was mit männlichen Opfern in Verbindung zu bringen gewesen wäre. Also habe ich mich überwunden und bei Wildwasser angerufen.

Die Psychologin, die dort an der Telefon-Beratung saß, hat mir möglicherweise das Leben gerettet. Sie war der erste Fachmann, der mir wirklich zugehört hat. Sie hat mich einfach verstanden, ohne große Worte. Wahrscheinlich hat sie auch verstanden, in welchem Zustand ich war. Leider gab es ein einziges Problem: Wildwasser arbeitet nur für weibliche Opfer, daher konnte ich zwar nochmals bei ihr an dieser Hotline anrufen, mehr ging aber leider nicht. Auf meinen Wunsch hin hat sie mir jedoch Adressen von Kollegen gegeben, von denen sie wusste, dass sie einfühlsam mit Missbrauchs-Patienten umgehen konnten. Die Gespräche mit ihr hatten mir gezeigt, dass es tatsächlich auch einfühlsame Therapeuten geben musste, die auch wirklich einfühlsam und nicht bloß "nett" waren.

Unter den von ihr empfohlenen männlichen Kollegen war kein einziger Fehlgriff. Ich bin nach Probesitzungen bei zwei verschiedenen Therapeuten dann bei einem gelandet, der selber Missbrauchs-Überlebender ist und mir manchmal sogar meine eigenen Gefühle erklären konnte, die ich selber nicht verstand oder nur halb wahrnahm. Dies war die beste Entscheidung meines Lebens. Da bin ich mir 100% sicher.