Programmierungen / Gehirnwäsche / Introjekte

Was geschieht bei einem Trauma?

Der Begriff "Programmierung" wird manchmal auch von Leuten aus der New-Age-Szene verwendet, die behaupten, dass Geheim-Sekten (nicht zu verwechseln mit nachweisbaren sektenartigen Gruppierungen) oder Geheimdienste mit Hilfe von sogenanntem Mind Control die Weltherrschaft anstreben würden, indem sie sich ganze Heerscharen programmierter Sklaven heranzüchten (die von ihrer Programmierung aber nichts wissen könnten). Mit diesen (weder beweisbaren noch widerlegbaren) Behauptungen können diese Leute Überlebende von sexuellem Missbrauch stark verunsichern und in Panik versetzen, obwohl letztere von systematischen Programmierungen im Regelfall gar nicht betroffen sind. Mir geht es hier nicht um Diskussionen zu diesem kontroversen und meines Erachtens nicht hilfreichen Thema. Mir geht es um etwas anderes. Ich meine mit Programmen etwas viel allgemeineres.

Für mich ist all das eine Programmierung, was meine Bandbreite an potentiellen Handlungsweisen reduziert, weil ich ein Trauma erfahren habe. Hätte ich das Trauma nicht erlebt, dann hätte ich reichhaltigere Möglichkeiten, mich zu verhalten, zu denken und zu fühlen. Mein Leben würde anders verlaufen.

Das Besondere einer Programmierung ist die Art und Weise, wie sie zu Stande gekommen ist. Jemand hat meine Existenz durch sein Tun in Frage gestellt. Beispiele sind der sexuelle Missbrauch durch meine Mutter oder die Prügel meines Vaters, mit denen er mir als Kleinkind das Schreien "abdressiert" hat, oder wie er mich nach der Aufdeckung des Missbrauchs so lange geprügelt hat, bis ich "zugab", meine Mutter "verführt" zu haben. Auch bei einigen anderen Gelegenheiten zwang er mich unter Prügel, seine Worte nachzusprechen.

Der grundlegene Mechanismus einer Programmierung ist bereits im Trauma-Artikel beschrieben; normalerweise entsteht ein "Programm" als Seiteneffekt einer Traumatisierung u.U. selbst dann, wenn die Programmierung als solche nicht der Hauptzweck der Traumatisierung war. Als Programmierung im engeren Sinne bezeichnet man die Produkte (Introjekte) solcher Traumatisierungen, bei denen die Programmierung vom Täter in irgendeiner Form beabsichtigt wurde (z.B. Gehirnwäsche). Hier verwende ich jedoch den Begriff in einem weiteren Sinne und schließe damit auch Nebenprodukte und unbeabsichtigte Programme mit ein - denn die können einem Opfer genauso schaden.

In äußerster Lebensgefahr gibt es zwei grundlegende Reflexe, die tief im Stammhirn gesteuert werden und dem normalen Alltags-Denken kaum zugänglich sind: entweder Flucht oder Gegenangriff.

Eine Programmierung kommt dadurch zustande, dass als Reaktion auf die Lebensgefahr weder Flucht noch Gegenangriff möglich war (aussichtslose Situation). Der Körper musste in dieser äußersten Not eine Art "Lerneffekt" auf niederer Steuerungsebene benutzen, um sich an diese Extremsituation anzupassen. Eine solche Anpassung kann z.B. im absoluten Gehorsam gegenüber dem Täter bestehen, der scheinbar alles mit einem machen kann oder absolten Einfluss auf das Denken, Fühlen und Handeln gewinnt (bis hin zu hypnoseartigen Gefolgschafts-Zuständen ähnlich dissoziativer Trance). Um in so einer Situation das Überleben zu ermöglichen, greift der menschliche Körper zu drastischen Notmaßnahmen: etwas vereinfacht dargestellt, werden im Gehirn Nerven-Verbindungen getrennt, die normalerweise zu einer anderen Reaktion führen würden. Diese Notmaßnahmen sollten in unserer frühen Entwicklunsgeschichte offenbar dazu dienen, langwierige Bewertungsprozesse zu verhindern und damit sehr schnelle Notreaktionen zu aktivieren.

Wie man aus der Hirnforschung weiß, hat der Mensch mehrere verschiedene voneinander unabhängige Gedächtnisse. Das im Großhirn sitzende explizite Gedächtnis ist dasjenige, das wir alle kennen und im Alltag benutzen: es interpretiert die Sinneseindrücke und zieht daraus Schlussfolgerungen. Dort sitzt der Verstand und das Selbstbewusstsein. Im Kleinhirn sitzen dagegen mehrere implizite Gedächtisse, die für die uninterpretierte Speicherung von Sinneseindrücken zuständig sind und im Alltag oft nicht wahrgenommen werden, weil ihr Inhalt meist unbewusst ist. So gibt es ein implizites Gedächtnis für Gerüche, eins für Töne, eins für den Tastsinn und so weiter. Die impliziten Gedächtnisse sind entwicklungsgeschichtlich viel älter als das explizite Gedächtnis. Schon die Dinosaurier benutzten diese Gedächtnisse zum Überleben.

Im Normalfall arbeiten die verschiedenen Gedächtnisse zusammen; es fällt einem gar nicht auf, dass man verschiedene Gedächtnis-Arten hat.

Bei einem Trauma wird jedoch das explizite Gedächtnis durch einen sehr urtümlichen Mechanismus abgeschaltet, um das Überleben wahrscheinlicher zu machen. Die impliziten Gedächtnisse arbeiten reflexhaft und viel schneller als das explizite, was zu den Saurier-Zeiten auch einen entscheidenden Vorteil im Überlebenskampf darstellte. In Notsituationen wird auch heute noch sozusagen auf "Dino-Reaktionsmuster" umgestellt. Das kann so weit gehen, dass das normale Alltagsgedächtnis fast ganz abgeschaltet wird und kaum etwas von dem Trauma mitbekommt!

Die Folge ist u.a., dass traumatische Erinnerungen oft uninterpretiert sind, weil die normale Verarbeitung und Interpretation gar nicht stattgefunden hat. Leider kann die für unser soziales Funktionieren dringend notwendige Interpretation und Verarbeitung oftmals nicht mehr ohne weiteres stattfinden, auch nicht nachträglich: bei schweren Traumata werden einige der Verbindungen zwischen verschiedenen Teilen des Gehirns sogar dauerhaft unterbrochen. Einige Forscher haben nachgewiesen, dass Traumata dauerhafte Veränderungen im Gehirn bewirken können, die mit Kernspintomographie und anderen Methoden sichtbar gemacht werden können. Details sind in der unten aufgeführten Literatur zu finden. Jeder, der sich intensiv mit Trauma-Behandlung befasst (nicht nur als Therapeut, sondern auch als mündiger Patient), sollte diese als Pflichtlektüre lesen!

Bei sich öfters wiederholenden Traumatisierungen gleicher Art ist dieser Effekt ganz besonders stark. Der normale Verstand ist beim Ablauf solcher wiederholt eingebrannter Programme praktisch abgeschaltet. Wenn Programmierungen in den impliziten Gedächtnissen stattgefunden haben, sind diese kaum mit dem normalen Alltags-Gehirn steuerbar und kontrollierbar, weil sie sozusagen auf einer "reflexhaften" körpernahen Ebene eingebrannt sind und das normale Gedächtnis wegen fehlender Verbindungen auch nicht eingreifen kann (einige Forscher meinen, dass man dabei auch in einem ähnlichen Zustand wie beim ursprünglichen Trauma sein kann, ähnlich wie bei einer Retraumatisierung).

Das bedeutet aber nicht, dass man gegen Programmierungen der impliziten Gedächtnisse nichts unternehmen kann. EMDR scheint eine Methode zu sein, mit der man das Herstellen neuer Verknüpfungen im Gehirn beschleunigen kann. Lernen beruht ja auch zu einem Teil auf dem Herstellen neuer Verknüpfungen. Ich vermute, dass auch Trance einen ähnlichen Effekt bewirken kann.

Meiner Erfahrung nach kann man Programme nicht einfach löschen, aber man kann an ihre Stelle neue Programme schreiben. Die neuen Programme kann man sich jedoch selber aussuchen, ganz im Gegensatz zu den Täter-Programmierungen!

Das R in EMDR bedeutet "Reprocessing", also genau das, was gegen Programmierungen hilft!

Literatur

Bessel A. van der Kolk, Alexander C. McFarlane, Lars Weisaeth (Hrsg.): Traumatic Stress - Grundlagen und Behandlungsansätze. Theorie, Praxis und Forschung zu posttraumatischem Streß sowie Traumatherapie. Junfermann Verlag 2000.