Beziehungen und Beziehungsprobleme von Überlebenden

Dieser Artikel behandelt "alltägliche" Beziehungsprobleme.
Für schwer destruktive Beziehungen / schwere Beziehungsstörungen gibt es hier einen eigenen Artikel.
Trotz Schwerpunkt auf Missbrauchs-Opfer ist er möglicherweise auch für Nichtbetroffene sehr anregend und nachdenkenswert.

Kindesmisshandlung und physischer oder sexueller Missbrauch ist unter anderem auch ein schwer wiegender Missbrauch einer Beziehung. Daher ist es kein Wunder, wenn Überlebende im späteren Leben immer wieder besondere Probleme mit Beziehungen und Partnern haben.

In diesem Artikel geht es sowohl um freundschaftliche Beziehungen als auch um intime Partnerschaften. Beide Arten unterscheiden sich im Wesentlichen nur dadurch, ob eine sexuelle Komponente vorhanden ist; im Hinblick auf sonstige zwischenmenschliche Beziehungen sind die Unterschiede eher graduell.

Wie werden Beziehungen normalerweise geregelt?

Das Grundproblem jeder Beziehung dreht sich um Nähe und Distanz.

Zuviel Nähe kann einen Menschen überfordern und seine Grenzen in Frage stellen, d.h. seine Gesundheit und sein Integrität in Frage stellen. Bei zuviel Distanz / Abstand leidet andererseits die Beziehung.

Das richtige Maß von Nähe und Distanz liegt bei jedem Menschen individuell anders -- vor allem kann es in unterschiedlichen Gebieten total unterschiedlich ausfallen. Die meisten Menschen regeln eine Beziehung ganz intuitiv und ohne viel nachzudenken. Das funktioniert vor allem deshalb, weil man den Beziehungs-Partner einschätzen und ihm vertrauen kann, dass er seine Bedürfnisse nach Nähe und Distanz einigermaßen im Konsens mit einem regelt -- durch Verhandlungen.

In jeder länger andauernden Beziehung (auch in nicht-intimen) bilden sich im Laufe der Zeit drei Bereiche heraus:

Noch plastischer dargestellt: beide Partner sind gleichberechtigte Teilhaber an einer gemeinsam gegründeten Aktiengesellschaft (mit gleichen Rechten und Pflichten); daneben haben beide aber auch ihr eigenes privates "Vermögen". Wenn einer der Partner seine Anteile an der Aktiengesellschaft kündigt, wird diese automatisch aufgelöst.

Im Idealfall ist das gemeinsame Revier dasjenige, das die Beziehung für beide Partner attraktiv macht: attraktiv heißt, dass das Leben beider Partner mit dieser Beziehung als schöner empfunden wird, als wenn es die Beziehung (und damit das gemeinsame Gebiet) nicht gäbe.

Ein häufiger Irrglaube besteht darin, man müsse Auseinandersetzungen (die meist um das gemeinsame Gebiet und/oder um das jeweilige ureigenste Gebiet stattfinden) um jeden Preis vermeiden. Diese Einstellung führt eher dazu, dass die Kämpfe versteckt ausgetragen werden, d.h. die Fairness der Auseinandersetzung kommt unter die Räder. Daher ist es gesünder für eine Beziehung, die Auseinandersetzungen als notwendig und sogar beziehungsfördernd anzusehen und auch so zu spüren, sofern man sie fair austrägt und dabei seine Gefühle (auch die negativen) soweit offen legt, dass dadurch der Partner nicht verletzt wird (wertschätzende Grundhaltung dem anderen gegenüber, auch und gerade bei einer Auseinandersetzung).

Wodurch sind Beziehungen von Überlebenden von sexuellem und physischem Missbrauch häufig gestört?

Sowohl bei Kindesmisshandlung als auch beim Inzest wird die lebenswichtige Urbeziehung eines Kindes zu seinen wichtigsten Vertrauenspersonen auf schwerste Weise gestört.

Die typischerweise von einem Inzest-Täter verordnete und mit Sanktionen belegte Geheimhaltung stellt so ziemlich das Gegenteil einer Verhandlung dar. Das Kind erfährt nicht nur das Gegenteil von Sicherheit und Geborgenheit, sondern eine grenzenlose Zerstörung seines Urvertrauens. Ein Kind aus einer Inzestfamilie kann sich auf nichts verlassen. Wirklich buchstäblich auf gar nichts. Und zwar in der wichtigstens Urbeziehung seines Lebens, die als Vorbild und Modell für spätere Beziehung dienen wird. Das Opfer erfährt somit Beziehung als solche als traumatisch.

Unabhängig von den neurobiologischen Folgen der körperlichen und sexuellen Traumata kann ein Beziehungs-Trauma ganz eigenständige Folgen für die zukünftigen Beziehungen des Opfers hervorbringen:

Überlebende haben es einfach von vornherein viel schwerer, eine gute Beziehung zu führen. Oft kommt auch noch eine problematische Partnerwahl hinzu, die das erst recht unmöglich macht.

Was kann man dagegen tun?

Es gibt zwei Ansätze: einmal bei sich selber, zum anderen beim Partner.

Ansätze bei sich selber

Dieser Ansatz ist der wichtigste, weil man einen Partner nicht ohne weiteres ändern kann (außer sich von ihm zu lösen und sich einen neuen zu suchen). An sich selbst kann man dagegen arbeiten, sofern man das wirklich will.

Ich glaube, der wichtigste Ansatz bei sich besteht nicht darin, bestimmte Verhaltensweisen einzuüben oder sich irgendetwas vorzunehmen. Anstatt guter Vorsätze dürfte es wichtiger sein, seine eigene Bandbreite an möglichen Verhaltensweisen zu vergrößern:

  1. Auslöser (Trigger) durch Trauma-Therapie unschädlich machen
  2. Die in der Kindheit gelernten Verhaltensmuster hinterfragen und von anderen lernen, wie diese ihre Beziehungen auf positive Weise gestalten
  3. Die Wahrnehmung eigener und fremder Gefühle verbessern (Dissoziationen auflösen)
  4. Den Missbrauch durch Therapie aktiv aufarbeiten
  5. Bisher versperrte Wege öffnen und Barrieren und Blockaden beseitigen
  6. Neue Einstellungen und Verhaltensmuster ausprobieren und einüben
  7. Vertrauen muss verdient werden: Belohnung für gerechtfertigtes Vertrauen!

Häufig hängen Beziehungsstörungen mit der Selbstwahrnehmung / Selbstachtung und mit der Wahrnehmung des Partners zusammen. Als Kind konnte man eine Misshandlung oder einen Missbrauch nur dadurch überleben, dass man seine Wahrnehmung zwangsweise so verbiegen musste, dass man bestimmte Dinge nicht mehr wahrnahm (sonst wäre das Überleben nicht möglich gewesen). Oft wird auch "harmloses" Verhalten des Partners als unangenehm oder gefährlich missinterpretiert (Trigger, Zusammenhang mit Trauma-Erfahrungen). Das behindert und torpediert eine erwachsene gleichberechtigte Beziehung.

Wenn man etwas auch aus der Warte seines Partners sehen kann, dann steigen die Chancen ganz rapide, einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen und Wahrnehmungen durch Verhandlung zu erreichen. Allerdings sollte das für beide gelten.

Ansätze beim Partner

Wer in einer destruktiven Beziehung lebt, sollte sich daraus lösen, denn sie lässt sich so gut wie nie reparieren.

Es ist zwecklos, einen Partner ändern zu wollen. Wirklich von Grund auf beeinflussen kann man nur eines:

Der wichtigste Einfluss-Faktor ist, wen man sich als Partner wählt.

Diese Binsenweisheit ist besonders für Überlebende nicht leicht in die Praxis umzusetzen. Bei lange dauernden abhängigen Beziehungen ist man als Überlebender oft suchtartig von einem destruktiven Partner abhängig und kommt aus dieser inneren Abhängigkeit nicht heraus. Hat man dagegen keinen Partner, ist die Partnerwahl oft durch Begleitumstände von Krisen oder durch "Vorfilter" wie Angst vor Nähe / Sexualität (oder dem Gegenteil wie z.B. promiskem Verhalten) erschwert. Beides führt nicht selten dazu, dass man "an den Falschen" gerät.

Hat man hingegen einen verständnisvollen Partner, dann ist dieser häufig durch die spezifischen Probleme von Überlebenden überfordert (oft auch, ohne dies zugeben zu wollen oder zu können).

Hier kann jedoch externe Hilfe wie Familien/Partnertherapie und ein etwas größerer Abstand helfen.

Allgemein

Das A und O einer glücklichen Beziehung lautet: Wertschätzung, und zwar von sich selber und vom Partner!

Besonders kritische Bereiche

  1. Flashback-Auslöser: wenn man selber seine Trigger schon nicht kennt, dann haben Partner erst recht ein Problem, die meist nur schwer verständlichen Zusammenhänge zu begreifen und keinen Fehl-Interpretationen zu unterliegen. Wenn der Partner seinerseits Überlebender ist (vielleicht ohne es zu wissen), können sich solche Trigger gegenseitig aufschaukeln.
  2. Gesprächsbereitschaft: Traumatisierte ziehen sich oft zurück, um das Risiko weiterer Verletzungen zu vermindern. Dadurch können Klärungen behindert werden. Fehlende Klärungen wichtiger Grundanliegen ruinieren auf Dauer jede Partnerschaft, und zwar mit Sicherheit!
  3. Aufladung: wenn sich einer der Partner andauernd frustriert, ausgenutzt oder missachtet fühlt, können sich solche Gefühle aufstauen. Wenn sie dann eruptiv aufbrechen, kann es zur teilweisen oder vollkommenen Zerstörung der Beziehung kommen.
  4. In intimen Partnerschaften ist der Bereich der Sexualität wegen seiner Tabuisierung oft in Gefahr, zu einem Feld von Auseinandersetzungen und Wiederholungen zu werden -- oder zum Gegenteil, der absoluten Funkstille (sexuelle Verweigerung, eine der schwersten Formen von Destruktivität in intimen Beziehungen, die die Basis der Beziehung ruiniert), worunter die Partnerschaft erst stark leidet, bis hin zur Auflösung und Zerstörung.
  5. Gefahr der Spaltung: wenn etwas in der festen Partnerbeziehung blockiert ist oder nicht (mehr) geht (z.B. auf dem Gebiet der Sexualität), greifen Überlebende besonders gerne zum leicht verfügbaren Mittel der Spaltung (z.B. einen festen Partner fürs Gemüt und die finanzielle Versorgung, sowie viele wechselnde Sexualpartner nebenher, was natürlich nicht erst beim Auffliegen die Beziehung ruinieren kann, sondern meist auch schon vorher zu starken unterschwelligen / unbewussten Belastungen geführt hat, die lediglich nicht zugegeben / wahrgenommen wurden).

Gerade die Spaltung in der intimen Partnerschaft lässt sich auch als Fortsetzung und Wiederholung einer Missbrauchs-Situation deuten: fast alle Überlebenden (männlich und weiblich) kämpfen mit dem inneren Widerspruch, dass der Missbrauch teilweise auf der biologischen Ebene auch "Spaß" gemacht hat (wegen der evolutionsgeschichtlich sehr alten biologischen Automatismen), was aber zum unlösbaren Konflikt auf der psychischen Ebene in einer Missbrauchs- oder Vergewaltigungssituation führen muss. Diese frühzeitig eingeübte und ursprünglich überlebensnotwendige Spaltung zwischen biologischer und emotionaler Ebene kann spätere erwachsene Partnerschaften schwer gefährden.

Anzeichen für eine derartige Spaltung kann sein: vollkommene sexuelle Funkstille (sexuelle Verweigerung, d.h. totale Verweigerung aller Arten von Sexualität, in schweren Fällen zusätzlich auch der Intimität, nicht zu verwechseln mit sexuellen Schwierigkeiten, die bei Überlebenden sehr häufig vorkommen und meist nur bestimmte Arten von Sex betreffen) mit dem festen Partner, während Sexualität auf andere Weise (z.B. Selbstbefriedigung oder Promiskuität) weiterhin möglich ist. Dies ist in jedem Falle ein sehr deutlicher Hinweis, dass etwas mit der Beziehung grundlegend nicht in Ordnung ist. Aber auch destruktive Beziehungen, bei denen fast nichts außer der Sexualität klappt, können mit derartigen Spaltungen zusammen hängen.

Übungsfelder (Tipps nur für momentan Ungebundene)

Das Internet ist ein Übungsfeld, in dem sich Beziehungen und die Regelung von Nähe und Distanz ausprobieren lassen, sofern man sich vor Gefahren in Acht nimmt und sich ein Sicherheitsnetz geschaffen hat. Im Internet geht das Schaffen von Distanz viel leichter als im realen Leben. Allerdings ist besonders intensive Nähe nicht möglich; das Zeigen von Gefühlen ist noch stärker behindert als am Telefon.

Das Internet lässt sich mit einer Mönchszelle vergleichen, die mit der Außenwelt durch einen Amateurfunksender mit Morse-Signalgeber und -Empfänger verbunden ist.

Von Chats muss ich abraten, da es dort kein Sicherheitsnetz und kaum soziale Kontrolle gibt, die die schlimmsten (leider von mir beobachteten) Auswüchse begrenzen könnten. In diesem Punkt sind Email-Kontakte oder Foren deutlich sicherer.

Eins sollte man jedoch auf gar keinen Fall machen: seine Hilfsbedürftigkeit bei der Missbrauchs-Aufarbeitung mit Internet-Beziehungen verquicken. Man kann den Partner im Internet ja nicht sehen und geht deshalb eine erhöhte Gefahr ein, an (professionelle) Ausbeuter zu geraten, die sich auf das Scannen der Internet-Kommunikationskanäle nach SOS-Codes von Überlebenden spezialisiert haben. So habe ich beispielsweise das Auftauchen eines Nicht-Überlebenden in einem Internet-Forum für Überlebende beobachtet, der anderswo sexuelle Vergewaltigungs-Phantasien von sich gegeben und den Sex mit einer minderjährigen Überlebenden als besonders toll dargestellt hat. Von einem anderen, der sich früher als Forenmaster betätigt hat, habe ich in einem Gespräch gehört, dass Überlebende (speziell Multis) im Bett zu ganz besonders heißen Sachen fähig seien, die sich ein normaler Mann gar nicht vorstellen könne. Solche Leute suchen offenbar ganz gezielt nach Überlebenden! Inzwischen habe ich die Beobachtung gemacht, dass sich Leute, die eine ähnliche Ausstrahlung versprühen, offenbar auch verstärkt als männliche Überlebende ausgeben bzw. mit dem Hinweis auf ihre durchaus glaubhafte eigene Missbrauchs-Geschichte verschleiern, was sie im Hintergrund tatsächlich suchen.

Merksatz: Überlebenden-Foren zur Missbrauchs-Aufarbeitung (oder gar sogenannte "Überlebenden-Chats") sind nicht für Partner-Beziehungs-Übungen geeignet! Letzteres sollte man daher nur in "normalen" Foren machen.

Wenn man die entsprechende Vorsicht walten lässt (mindestens bis zu einem Kennenlernen im RL (Realen Leben)), dann kann einem das Internet jedoch beim Einüben gleichberechtigter Beziehungsgestaltung helfen.

Besonders zu empfehlen ist das in Überlebenden-Kreisen bekannte Buch "Trotz allem" von Ellen Bass und Laura Davis. Ein großer Teil dieses Buches handelt von Beziehungen und ihrer Heilung.

Literatur