Der Begriff hat mehrere Bedeutungen. In der Alltags-Sprache steht er oft für etwas, über das man nicht reden darf. Wer ein bestimmtes Thema anschneidet, dem drohen soziale Sanktionen. Oft wird unterstellt, dass unter dem Deckmantel der Tabuisierung unschöne Dinge ablaufen, und man Tabus daher "knacken" müsse. Viele Tabus seien "verstaubt" und nicht mehr zeitgemäß.
Ich habe jedoch gelernt, dass Tabus ursprünglich einem ganz anderen Zweck dienen sollten: dem Schutz des Schwächeren.
Beispielsweise ist es bei uns tabu, körperlich schwächere und kranke Erwachsene / Greise zu schlagen oder sonstwie schlecht zu behandeln. Interessanterweise gilt dieses Tabu nicht für kleine Kinder, obwohl sie ebenso schwach und verletzlich sind.
Es gibt viele weitere Tabus, beispielsweise wie wir unsere Toten behandeln. Die Toten selbst müssten zwar nicht mehr unbedingt geschützt werden (da sie nichts mehr spüren können), doch sind die Angehörigen im Trauerfall sehr starken seelischen Belastungen ausgesetzt, auf die es Rücksicht zu nehmen gilt. Daher dient das Tabu auch hier letztlich dem Schutz des Schwächeren.
Dies ist durch folgendes Gedankenexperiment leicht einzusehen: viele Menschen wurden kürzlich durch die Ausstellung "Körperwelten" angezogen, obwohl (oder gerade weil?) dort mit der Totenruhe zusammenhängende Tabus reihenweise gebrochen wurden; auch die in der Presse immer wieder thematisierten Skandale trugen wohl eher zur Popularität dieser Veranstaltung bei. Jetzt stelle dir folgendes vor: beim Besuch dieser Ausstellung entdeckst du zufällig und ohne Vorwarnung die präparierte Leiche deines besten Freundes / Freundin, den du vor ein paar Jahren zum letzten Mal gesehen hattest und mit dem du immer viel unternommen hattest.
Das Beispiel ist zugegeben etwas drastisch, aber es erklärt den Sinn dieser Tabuisierung sehr einprägsam.
Viele weitere Tabus hängen mit der Nahrungsaufnahme und -Ausscheidung zusammen (z.B. klaut man seinem Restaurant-Nachbarn nichts vom Teller oder spuckt ihm auf den Teller). Auch der Bereich der Sexualität ist durch viele Tabus geschützt. Darunter fällt auch sexueller Missbrauch und Vergewaltigung. Wie man sieht, geht es um grundlegende Dinge, die für die Arterhaltung wichtig sind.
Die Existenz des Inzest-Tabus wird praktisch von niemandem bestritten, selbst nicht von der Mehrzahl der verurteilten Sexualdelikts-Täter. Einige wenige Fachleute streiten sich noch darum, wo das Inzest-Tabu herkommt und wie es in der heutigen Zeit zu begründen ist.
Tatsache ist, dass es fast ausnahmslos bei allen Völkern einschließlich Naturvölkern vorkommt (die bekannten Ausnahmen bei den ägyptischen Pharaonen waren sehr streng reguliert und nur den Gottgleichen vorbehalten, was ihre Ausnahmestellung untermauerte; für den Normalsterblichen galt auch im alten Ägypten das Inzest-Tabu). Anthropologen sprechen von einem universellen Tabu; manche meinen sogar, dass es das einzige universelle Tabu sei (im Unterschied zu den kulturbedingten Tabus).
Über das Inzest-Tabu ist viel gestritten worden. Ob es um den Schutz des Nachwuchses auf biologisch-genetischer Ebene, oder um den Schutz der psychosexuellen Entwicklung von Kindern geht (die letztlich auch wieder der Arterhaltung dient), oder um eine Kombination hiervon: es geht in allen strittigen Diskussionsfragen letztendlich um den Schutz eines existentiellen und schützenswerten Gutes!
Wie man aus Untersuchungen an Tätern (Deegener) weiß, führt das Verantwortungs-Abwehr-System (VAS) manchmal auch zur Leugnung und Verdrehung des Inzest-Tabus. Täter nutzen und pervertieren oftmals den Schutzraum von Tabus zu ihren Gusten, insbesondere die Privatsphäre der Familie. In diesem Abschnitt geht es jedoch um eine weniger auffällige quasi "alltägliche" Perversion von Tabus, die weit verbreitet ist.
Der Schutz der Familie ist so ein Thema. Nur wenige hinterfragen tiefgehend genug, wozu dieses Tabu eigentlich dienen soll. Noch tiefer als das Grundgesetz geht seine Begründung durch den Arterhalt und die natürliche Existenzgrundlage (Naturrecht). Im Klartext: es geht dabei letztlich um die eigene Existenz und den eigenen Fortbestand als Gruppe!
Nun wissen wir aus zahlreichen Untersuchungen (oder besser: SOLLTEN es wissen!), dass mehr als die Hälfte aller Sexualdelikte an Kindern durch verwandte Täter im sozialen Nahbereich der Familie geschehen (u.a. auch durch Bruch des Inzest-Tabus). Die Familie ist in diesen Fällen eine Ursache der Schädigung des eigenen Nachwuchses!
Auf dem Hintergrund dieser längst als gesichert geltenden Tatsache ist es keineswegs egal, womit man den Schutz der Familie und den Schutz von Kindern begründet. Denn Familienschutz und Kinderschutz sind in Wirklichkeit nicht das gleiche!
Im Konfliktfall steht rein äußerlich betrachtet ein Tabu gegen das andere.
Vergleicht man dagegen die Begründung der Tabus durch den Arterhalt, so wird der Konflikt lösbar.
Ein Kind braucht zu seiner Entwicklung und zu seinem Überleben irgendeine funktionierende und fürsorgliche Familie, aber keineswegs eine ganz bestimmte!
Genau das wird aber von vielen "Kinderschützern" übersehen, die sich selbst als solche bezeichnen und auch Vereine mit dieser angeblichen Zielsetzung gegründet haben, die teilweise die politische Willensbildung beeinflussen und manchmal auch staatliche Zuschüsse bzw. Steuervergünstigungen kassieren. Wer Kinder wirklich schützen will, der darf in der Mehrzahl der Missbrauchs-Fälle (d.h. keineswegs nur in seltenen Ausnahmen, die man ignorieren oder bagatellisieren kann) den Schutz der konkreten Familie nicht höher stellen als den der Kinder, schlichtweg weil beide in Konflikt stehen. Wer behauptet, er wolle ein Inzest-Opfer-Kind dadurch schützen, dass er die Familie schütze, der lügt entweder, oder er betreibt eine Verharmlosung und Verdrehung!
Wer behaupten möchte, dass sich beide Zielsetzungen in den genannten Fällen angeblich nicht gegenseitig ausschließen, der sollte dies zuerst an der Realität der betroffenen Kinder überprüfen, bevor er politische Lobby-Arbeit betreibt und mit seinen unbewiesenen Behauptungen die politische Meinungsbildung manipuliert. Ansonsten setzt er sich bei mir dem Verdacht aus, in Wirklichkeit eigene Interessen und nicht diejenigen des Kindes zu verfolgen. Inzest-Opfer wie ich haben nämlich die gegenteilige Erfahrung am eigenen Leib und an der eigenen Seele gemacht, und die sollte man in der politischen Diskussion endlich auch einmal anhören!
Besonders deutlich ist dies auf Webseiten zu sehen, wo "Kinderschutz" als "Schutz vor dem Eingriff von Gerichten und Behörden" in die Familie bei mutmaßlichem Missbrauch des Kindes definiert wird. Wer das nicht glaubt, kann durch Suchmaschinen massenweise solche Webseiten aufspüren, die den Begriff "Kinderschutz" auf ähnliche Weise definieren oder auslegen, und zwar sogar in solchen Fällen, wo das betroffene Kind selbst den mutmaßlichen Missbrauch aufgedeckt hat, worauf nicht selten eine mit juristischen Argumenten geführte Schlacht entbrennt, bei der ein strafrechtlich oftmals nicht möglicher lückenloser Nachweis des Missbrauchs unterschwellig mit völliger Ungefährlichkeit des Kontaktes zwischen Kind und mutmaßlichem Täter gleichgesetzt und auf das Risiko nicht eingegangen wird, hingegen aber mit Vehemenz die Schädlichkeit der unterbundenen Eltern-Kind-Beziehung betont wird. Diese einseitige Risiko-Darstellung in einem sehr schwierigen Konflikt-Gebiet soll angeblich Kinderschutz sein!
Es sind glaubhafte Fälle bekannt, in denen sich ein Täter selbst angezeigt hat, als das Opfer sein Schweigen zu brechen begann, damit er "nachweisen" konnte, dass er "unschuldig" sei, weil er genau wusste, dass die strafrechtlich relevanten Beweise nicht ausreichen würden, und er so eine gute Chance hatte, dass der Kontakt zum Kind nach dem zu erwartenden strafrechtlichen "Freispruch" nicht mehr untersagt werden würde.
Selbst in großen und "altehrwürdigen" Kinderschutz-Organisationen gibt es nach wie vor einflussreiche Fraktionen, die in diesem Sinne Lobby-Arbeit leisten. Es gab sogar von "Kinderschutz"-Lobbyisten aus diesem Umfeld organisierte "Fachkongresse", u.a. mit Teilnahme prominenter "Sexualwissenschaftler", die behaupten, Pädophilie erfolge aus dem objektiven Bestreben, Kindheit zu verschönern. Von derartigen "Kinderschutz"-Leuten wurden angebliche "Standardwerke" zum Umgang mit Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch herausgegeben, deren Inhalt nur so von einseitigen Verdrehungen und Bagatellisierungen zu Gunsten von in Verdacht geratenen möglichen Tätern strotzt und die ganz offenkundig von den Gefühlen und Problemen der Opfer nicht die mindeste Ahnung zeigen.
Noch häufiger als die Verschleierung der oftmaligen Unvereinbarkeit von Kinderschutz und Familienschutz, die Begriffsverwirrung und Infiltration der Begriffs-Definitionen ist die Ignoranz. Das Weglassen relevanter Gesichtspunkte (z.B. neuere Erkenntnisse der Trauma-Forschung) scheint ein sehr wirksames Mittel politischer Einflussnahme zu sein.
Es wird Zeit, öffentlich stärker darauf hinzuweisen, dass die sexuelle Ausbeutung von Kindern zum größten Teil von deren eigenen Familienangehörigen betrieben wird.
Solange Opfer schweigen und sich nicht mit Gegenargumenten in einem politischen Prozess Gehör verschaffen, bei dem es mehr auf Lautstärke und Gewicht von Mitgliederzahlen ankommt, haben Kinder keine wirkliche Lobby. Lobby-Arbeit für Kinder wird von selbsternannten Kinderschützern und nicht von betroffenen Kindern selbst betrieben. Die Erfahrungen erwachsener Opfer, die als Kind genau in diesem Dilemma zwischen Erhalt der Ursprungsfamilie und eigenem Überleben gesteckt haben, gehen in dieser Schlacht um die Meinungsbildung unter.
Die Frucht dieser Lobby-Arbeit ist bereits sichtbar: einige als "Verbesserung des Kinderschutzes" verkaufte Gesetzesänderungen der letzten Jahre zementieren die elterlichen Sorgerechte derart, dass es in der Praxis immer schwerer wird, bei Missbrauchs-Verdacht einzuschreiten und das Kind vor Übergriffen zu schützen.
Es wird Zeit, sich wieder auf den ursprünglichen Sinn der Tabus zu besinnen.