Eine Studie von Williams (1994, 1995) hat 129 Frauen untersucht, deren sexueller Missbrauch 17 Jahre vorher aufgedeckt und damals in der Krankenakte detailliert dokumentiert worden war. 17 Jahre nach den dokumentierten Vorfällen hatten 38% keinerlei Erinnerungen mehr daran! Weitere 16% gaben an, dass sie ihre Erinnerungen "zeitweise vergessen" hatten!
Mit diesem Themenkreis hat praktisch jeder Überlebende von sexuellem Missbrauch und anderer Gewalt wie z.B. physischem Missbrauch ("Battered Child Syndrome" und andere) zu tun. Viele wissen nicht einmal, dass sie Überlebende sexueller oder anderer Gewalt sind.
Wenn mir einer vor 1999 gesagt hätte, dass ich als Kind sexuell missbraucht worden bin, dann hätte ich ihm einen Vogel gezeigt. Auch in wissenschaftlichen Umfragen / Dunkelfeld-Untersuchungen über Missbrauch wäre ich in die Rubrik "nicht missbraucht" eingeordnet worden. Nichts in meinem scheinbar gutsituierten Leben (scheinbar glücklich verheiratet, zwei Kinder, ansehnlicher beruflicher Werdegang) hätte auf SOWAS hingedeutet.
Wie kommt das? Wie kann jemand so etwas wie Missbrauch beinahe 30 Jahre lang total "vergessen"? Täter-Lobbyisten behaupten immer wieder, man müsse sich an so einschneidende Erlebnisse wie Missbrauch doch erinnern können, also sei das "Vergessen" ein Beleg dafür, dass man keinen Missbrauch erlebt habe. Stimmt dies?
Nun, ich hatte es nicht wirklich "vergessen", sondern verdrängt.
Und zwar deswegen, weil die Unbewusstheit einen Sinn gehabt hat!
Unser Unterbewusstsein ist in Wahrheit viel stärker als unser Alltagsbewusstsein.
Die Erinnerung an Missbrauch, Vergewaltigung und Folter / Gehirnwäsche wäre so schrecklich für mich gewesen, dass ich es kaum ausgehalten hätte. Als Kind konnte ich es ja nicht sofort aufarbeiten und bewältigen, weil ich gezwungen wurde, in der Täter-Familie zu bleiben. Die Natur hat für solche Belastungen einen gnädigen Mechanismus erfunden: den der Verdrängung und den der Dissoziation.
Theoretisch kann man es folgendermaßen beschreiben:
Leider gab es unter Wissenschaftlern einen Streit mit zwei Lagern (Freudianer gegen alle anderen), der seit über 100 Jahren tobt und auch heute noch nicht ganz erloschen ist: gehen einige der uns bekannten Missbrauchs-Symptome auf Verdrängung oder auf Abspaltung / Dissoziation zurück, d.h. ist es eher ein aktiver oder ein passiver Vorgang?
Was ist denn nun richtig? Ich bin mir sicher: BEIDES. Oder besser: beides kommt vor!
Die moderne Hirnforschung hat (u.a. durch Tierversuche) nachgewiesen, dass es das Phänomen der Dissoziation wirklich gibt. Die Folgen von Trauma-Einwirkungen lassen sich im Gehirn nachweisen; teilweise führen sie sogar zu dauerhaften organischen Veränderungen. Details sind in meinem Artikel über Trauma, PTBS und dissoziative Amnesie erklärt.
Andererseits habe ich Verdrängung bei mir selber ganz eindeutig beobachtet: ich habe nach dem Missbrauch durch meine Mutter Hilfe bei meinem Vater gesucht, und ich habe ihm damals Teile von dem geschildert, was meine Mutter mit mir gemacht hatte; das lag außerhalb des normalen Erfahrungshorizontes eines 8-jährigen Kindes. Ich hatte diese Teile selbst dann nicht vergessen, als er mich solange prügelte, bis ich "zugegeben" habe, dass ich meine Mutter angeblich "verführt" hätte. Ich habe danach noch mindestens zwei weitere Versuche unternommen, bei anderen Leuten (Pfarrer und die Leiterin eines Erholungsheims) Hilfe zu bekommen. In meiner Verwandtschaft waren später Teile der Missbrauchs-Geschichte durchaus bekannt (bzw was sie davon in teilweise verdrehter Form mitbekommen hatten), nur bei mir selber fast 30 Jahre lang überhaupt nichts! Ich hatte also nachweislich einige Teile des Traumas nicht sofort dissoziiert, sondern sie waren mir damals durchaus noch bewusst.
Andere Teile hatte ich dagegen schon als Kind sofort im Anschluss an das Trauma voll dissoziiert, beispielsweise die Anal-Vergewaltigung. Diese war so heftig und mit außerkörperlichen Erfahrungen verbunden (Depersonalisation / Derealisation), dass mir ihre Erinnerung nur mühsam als Erwachsener in der Therapie geglückt ist.
Wie kommt es, dass ich fast 30 Jahre überhaupt nichts mehr davon wusste, obwohl ich direkt im Anschluss daran durchaus noch einiges im Bewusstsein hatte?
Die Verdrängung war für mich der einfachste Weg, mein weiteres Leben und meine weitere kindliche Entwicklung halbwegs über die Runden zu bringen, da ich in der Täter-Familie bleiben musste und eine Beschäftigung mit dem Thema aus der damaligen Sicht nur "unproduktiv" gewesen wäre und mir nur weiteren Ärger bis hin zur erneuten Existenzgefährdung eingebracht hätte. Eine weitere Erklärung sind die Verdrehungen, mit denen mich meine Eltern teilweise aktiv "behandelt" haben (Gehirnwäsche). Hinzu kamen die Schuldgefühle, die sie und der Pfarrer mir eingepflanzt haben. Die galt es abzuwehren.
Meine Erfahrung ist also, dass es beides gibt, und dass beides jeweils eine Berechtigung in bestimmten Situationen gehabt hat.
Ich möchte nicht ausschließen, dass es auch Mischformen zwischen den Extremen Verdrängung und Dissoziation gibt.
Als weiterer neutraler Fachbegriff wird auch "Amnesie" verwendet; dieser sagt nichts über die Entstehungsweise (aktiv / passiv) aus.
Hier sind meine persönlichen Eindrücke und Erfahrungen dazu:
Verdrängte Erinnerungen können eher "von selbst" wieder ins Bewusstsein zurückkehren. Das ist bei mir als erstes passiert.
Dissoziierte Erinnerungen kommen dagegen eher nicht "von selbst", sondern für sie muss erst ein Weg gebahnt werden, d.h. es muss ein Zugang geschaffen werden. Das geschah bei mir oftmals in Trance bzw. durch EMDR.
Ich will nicht behaupten, dass es zwischen den beiden Arten Verdrängung und Dissoziation eine scharfe Grenze gibt, sondern nur meinen Eindruck über Tendenzen weitergeben, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass beide Arten verschiedene Ebenen der menschlichen Existenz betreffen. Natürlich kommen dissoziierte Anteile auch von selbst hoch (insbesondere bei Flashbacks / PTBS), vor allem wenn Trigger auf einen einwirken: wenn es von außen beobachtbar ist, dann kriegt man diagnostische Etiketten angehängt, ansonsten nicht (weil man es ja selber meist nicht merkt); es kann aber total falsch sein, aus fehlenden äußerlichen Anzeichen zu schließen, dass es keine dissoziativen Verarbeitungsmuster gegeben hat!
Dissoziierte Erinnerungen und Gefühle sind nach meiner Erfahrung deutlich schwieriger aufzufinden und zu bearbeiten. Die Fachleute bringen Dissoziation ja nicht ohne Grund mit (dissoziativer) Amnesie (=Gedächtnislücken) in Verbindung bzw. schließen aus ihrem Vorhandensein auf Dissoziation (was aber kein notwendiges Kriterium ist).
Laut Literatur (z.B. Fiedler) sind u.a. Amnesien, Depersonalisation und Derealisation sowie innere Stimmen und persönlichkeitsverändernde Zustandswechsel Indikatoren für Dissoziation.
Ein Sonderfall sind Flashbacks, die "von selbst" bzw. nach einem Auslöser auftreten können: diese betreffen meist dissoziierte Erinnerungen, die in den impliziten Gedächtnissen gespeichert sind. Flashback weisen eher auf eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) hin, können aber auch bei anderen Störungen wie Borderline, DIS, Depersonalisation und anderen auftreten. Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) hat sowohl laut Literatur als auch nach meinem Dafürhalten mehr mit dissoziiertem Material als mit verdrängtem zu tun, kann aber nach meiner Erfahrung beides umfassen, insbesondere auch verdrängtes Material wieder zurück ins Bewusstsein holen.
Häufig wird man das Auffinden von dissoziierten Erinnerungen und Gefühlen nur mit einer speziellen Trauma-Therapie schaffen. Man weiß weder, wo man suchen soll, noch kommt man von selbst ohne erfahrenen Therapeuten auf die Idee, danach zu suchen - und vor allem: sehr oft erkennt man Dissoziation bei sich selber nicht! Nichtsdestotrotz können gerade dissoziierte Erinnerungen und Gefühle besonders schwere Auswirkungen haben. Deswegen ist ihre Aufarbeitung ganz besonders wichtig.
Ich bin skeptisch, ob Dissoziation mit "normaler" analytischer oder tiefenpsychologisch fundierter Therapie alleine behandelbar ist. Missbrauch schädigt den Menschen ganzheitlich auf fast allen Ebenen und Schichten. Ohne Behandlung der körperlich/biologischen Ebene geht es genauso wenig wie ohne Bearbeiten der Gefühls- und Beziehungs-Ebene.
Deswegen sollten Missbrauchs-Therapeuten unbedingt ein sehr breites Spektrum von analytischer, tiefenpsychologisch fundierter Therapie über spezielle Trauma-Therapien bis hin zur kognitiven Verhaltens-Therapie beherrschen; auch andere Richtungen wie Gestalt- und Körpertherapie sind sicher sehr nützlich, solange sie nicht alleine eingesetzt werden.
Hier sind meine persönlichen Erfahrungen und Einsichten zu diesem Thema.
Obwohl ich bereits eine PTBS mit heftigen Flashbacks hatte, bevor ich mit der Therapie begann, habe ich erst durch die Therapie meine Dissoziation entdeckt. Oder besser gesagt: ich habe durch die Therapie endlich einen Namen für ein Phänomen gefunden, das für mich so selbstverständlich zum Alltag gehörte, dass ich keinen Namen dafür hatte. Auf der anderen Seite wusste ich schon als Kind, dass irgendetwas bei mir anders ist als bei "normalen" Kindern.
Während meiner Kindergarten- und Grundschulzeit waren Verwandte bei uns in der Ferienzeit zu Besuch (Sommerfrische). Der "Onkel Ali" (nur von uns Kindern so genannt) war Arzt und muss offenbar etwas bei mir bemerkt haben. Er diagnostizierte damals ADS (heute ADHS) bei mir, was mir aber überhaupt nicht gefiel (und zum Glück auch zu keinen Konsequenzen wie Ritalin führte, da meiner Mutter das egal war). Dieser Onkel Ali sagte aber trotzdem immer "Träumer" zu mir. Ich wusste genau, was er damit meinte: meine zeitweise völlige geistige Abwesenheit.
Diese geistige Abwesenheit war mein Markenzeichen. Ich konnte am Tisch sitzen, ohne etwas von den Gesprächen mitzukriegen. Heute sehe ich darin eine Überlebens-Strategie, wie ich mich der Dynamik dieser Inzest-Familie entziehen konnte, die ja auch und gerade bei den Mahlzeiten zum Vorschein kam (es wurde sehr viel gestritten). Während meiner Gymnasialzeit verzog ich mich sofort nach der Schule mit der Zeitung in eine Ecke und war nicht mehr ansprechbar. Nachts konnte ich zeitweise wegen Alpträumen nicht schlafen; zu anderen Zeiten war ich dagegen nicht wach zu kriegen, selbst wenn man eine Kanone neben mir abgefeuert hätte. Wenn Leute mit mir redeten, konnte es passieren, dass ich sie eine Minute später genau das fragte, was sie mir eben erklärt hatten. Je mehr sich Leute über meine Abwesenheit beschwerten und auf mich eindrangen, desto schlimmer wurde es. Besonders schlimm wurde es bei meiner Frau, die um so heftiger mit Attacken auf mich eindrang, je mehr ich mich dissoziativ zurückzog (siehe auch Regelung von Nähe und Abstand in Beziehungen). Es war eine automatische Abwehr-Reaktion, die ich kaum steuern konnte.
Wo war ich während dieser Abwesenheits-Zeiten?
Als Kind war ich meist in meiner eigenen Phantasie-Welt. Ich hatte Tagträume, beispielsweise vom Fliegen. Ich wollte weg von dieser Welt. Diese Welt war feindlich. Ich schuf mir meine eigene Welt. Im Alter von 10 machte ich fortlaufend Erfindungen, z.B. erfand ich verschiedene Arten eines Perpetuum Mobile, ohne von den physikalischen Gesetzen zu wissen, die dies unmöglich machen. Später erfand ich elektronische Schaltungen. Heute programmiere ich Computer und entwerfe ganze System-Architekturen im Kopf. Ich kann so tief in verschachtelte und verwundene Gedankenlabyrinthe hineinsteigen, dass ich alles andere außenherum vergesse.
Ich kann auch in anderen Zuständen sein. Bisher habe ich so eine Art "Kasper-Zustand" entdeckt (in dem ich vor allem als Kind war), mehrere Trauma-Zustände (teilweise mit kaltem Schweiß und Zittern), und einen Wut-Zustand, in dem ich mich innerlich fürchterlich über etwas aufregen kann, ohne es nach außen kundzutun. Ganz selten komme ich in einen anderen Wut-Zustand, wo ich auch äußerlich explodiere, das letzte Mal vor 4 Jahren bei meiner letzten Begegnung mit meinem Vater (Co-Täter beim sexuellen Missbrauch und Täter beim physischen Missbrauch), als er mir einerseits anbot, die Therapie zu bezahlen, aber im nächsten Atemzug hinzufügte, dass ich diese Missbrauchs-Geschichte doch "viel zu ernst nehmen" würde. Nach einem Zustands-Wechsel weiß ich manchmal nicht oder nur sehr nebulös, was sich im anderen Zustand abgespielt hat. Vor allem kann ich meine eigenen Gefühle und Motive aus dem anderen Zustand kaum nachvollziehen.
Am besten haben mir Trance, EMDR und Schaumstoff-Prügel geholfen, um weitgehend von "unfreiwilligen" Ausflügen in meine Traumwelten wegzukommen.
Ergänzung: über Dissoziation und ihre Erscheinungsformen gibt es inzwischen einen eigenen Spezial-Artikel.