Dissoziation und DIS / Dissoziative Projektionen

In diesem Artikel geht es um die komplizierteren Formen von Dissoziation, bis hin zu DIS (Dissoziative Identitäts-Störung; seit 1994 Nachfolge-Diagnose der früheren MPS = Multiple Persönlichkeits-Störung, die seitdem nicht mehr verwendet werden sollte).

Die einfacheren Formen sind im Artikel über Abspaltungen behandelt.

Dieser Artikel richtet sich sowohl an mitlesende Wissenschaftler, als auch an Betroffene.

Vor dem Lesen dieses Artikels sollten Betroffene unbedingt den Trauma-Artikel durchzulesen. Die dort erklärten Begriffe werden hier vorausgesetzt.

Was ist Dissoziation?

Der Begriff wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet. Je nach Autor und Kontext bezieht er sich auf biologische Vorgänge im Gehirn (physische Ebene), oder auf psychische Verarbeitungsmuster (Gefühls- und Verstandes-Ebene).

In diesem Artikel werde ich beides beleuchten, jedoch den Schwerpunkt auf die psychischen Verarbeitungsmuster legen.

Ich stelle hier eine (möglicherweise teilweise neue) Systematisierung und Erklärung vor, die sich einerseits auf bekannte Phänomene aus der Fachliteratur stützt, andererseits jedoch durch kritische Beobachtungen bei mir selber ergänzt wurde (Analyse meiner eigenen Verarbeitungsmuster). Weiterhin sind Erfahrungen und Erklärungen meines Therapeuten eingeflossen. Schließlich habe ich auch bestätigende Rückmeldungen von anderen Betroffenen bekommen.

Dissoziative Muster lassen sich demnach in zwei Hauptkategorien einteilen:

Kombiniert man diese Grund-Arten mit den verschiedenen Ebenen von Dissoziation, erhält man folgende Tabelle:

Systematische Kategorisierung mit Beispielen
Amnestisches Muster Projektives Muster
Körperliche Ebene Gedächtnis-Amnesie Somatisierung
Psychische Ebene Verdrängung Multiple Persönlichkeiten u.a.

Diese Tabelle stellt keine Exklusiv-Oder-Klasseneinteilung dar, sondern beschreibt Tendenzen oder Wahrscheinlichkeiten anhand von Beispielen. In der Natur betrifft ein Trauma immer mehrere Ebenen der menschlichen Existenz gleichzeitig, ebenso treten amnestische und projektive Reaktions-Muster auch gemischt auf. Die Tabelle stellt lediglich einen Versuch dar, eine halbwegs brauchbare Grob-Systematik in das breitbandige Chaos hineinzubekommen.

Die einzelnen Punkte werden in verschiedenen Artikeln behandelt:

Woher kommen dissoziative Projektionen?

Wie im Trauma-Artikel ausführlich beschrieben, werden bei einem Trauma einige Verbindungen im Gehirn getrennt (daher der aus dem lateinischen stammende Name "Dissoziation"). Die verschiedenen Gedächtnis-Arten, die in unserem Gehirn beheimatet sind, arbeiten anschließend nicht mehr so zusammen wie bei einem Gesunden.

Während bei der Amnesie sämtliche Erinnerungen und Erinnerungs-Arten (nahezu) komplett abgeschnitten sind, sind bei den projektiven Mustern nicht alle Erinnerungs-Arten vollständig abgeschnitten, oder die Trennung einer bestimmten Art hat nur teilweise stattgefunden.

Als Folge dieser Teil-Unterbrechungen passen Erinnerungen und Wahrnehmungen (ggf einschließlich der Selbst-Wahrnehmung) nicht mehr richtig zusammen.

Da unser Gehirn mit unvollständigen oder gar teilweise widersprüchlich erscheinenden Informationen nicht besonders gut umgehen kann, entstehen unvollständige bzw surreale Wahrnehmungen, die in der Fachsprache auch Projektionen genannt werden.

Nebenthema: bei jeder ganz normalen Alltags-Erinnerung findet immer eine Projektion statt. Jeder Abruf von gespeichertem Wissen transportiert dieses aus der Vergangenheit in die Gegenwart und führt dabei zu einem "inneren Bild", das nie die volle damalige Realität enthalten und abbilden kann. Unser Gedächtnis ist einfach kein Video-Rekorder. Bekanntermaßen schildern Unfall-Zeugen den Hergang bei Gericht immer mit leichten Fehlern und Verzerrungen, trotzdem stimmt ihre Kernaussage, nämlich dass ein Unfall passiert ist. Täter-Lobbyisten bauen ihre False-Memory-Theorien u.a. auf diesen Effekt und übersehen dabei, dass wegen der Unvermeidlichkeit von Projektionen jegliche Erinnerungen ganz generell falsch sein müssten, nicht nur diejenigen an sexuellen Missbrauch.

Unser Gehirn besitzt sehr viele verschiedene voneinander unabhängige Gedächtnisse und Verarbeitungs-Einheiten, die im Normalzustand parallel arbeiten und zusammenwirken (siehe Trauma-Artikel). Daher ist einsichtig, dass selektive Unterbrechungen / Dissoziationen ebenfalls nach dem Grundprinzip des Kartesischen Produktes aufgebaut sein müssen.

Merksatz: jede Gedächtnis-Art kann prinzipiell unabhängig von jeder anderen Gedächtnis-Art von Dissoziation betroffen sein, oder verschieden stark betroffen sein.

Beispiele:

Welche dissoziativen Projektionen gibt es?

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit habe ich bisher folgende voneinander unabhängigen Arten / Dimensionen von projektiven Dissoziationen auf der psychischen Ebene zusammengetragen:

a) Involvierte Gedächtnis-Arten:
Manche Trauma-Erinnerungen kommen als "Stummfilm", andere rein auf der "Tonspur" (z.B. Stimmen), wieder andere als reine Gefühlserinnerungen (z.B. Panik-Gefühle), andere als Geruchs- oder Geschmacks-Erinnerungen (z.B. als Würge-, Übelkeits- und Kotz-Gefühle), oder möglicherweise als reine Körper-Erinnerungen (oft mit Schmerz-Gefühlen, z.B. so als würde man gerade verprügelt oder als würde man gerade vergewaltigt) hoch.
Neben diesen (eher seltenen) Reinformen kommen auch beliebige Mischungen vor. So ist es bei Betroffenen durchaus "normal" (im Sinne von "häufig vorkommend"), dass Bild und Ton einer Erinnerung vorhanden sind, aber die zugehörigen Gefühle komplett fehlen. Es gibt aber auch völlig andere Kombinationen, die ggf auch "unsinnig" erscheinen können (siehe weiter unten bei den Surrealitäts-Faktoren).
b) Personalitäts-Grad:
Werden die Trauma-Erinnerungen eher einer "Person" zugeordnet, oder einer "Sache"?
Es gibt durchaus Trauma-Erinnerungen, die projektiv auf eine Sache verschoben werden, beispielsweise verwandelt man sich projektiv in einen Sandsack, dem die Prügel nichts mehr ausmachen, oder man verwandelt sich projektiv in eine Puppe, die eine Vergewaltigung nicht mehr spüren kann.
Hinweis: wer zum eigenen psychischen Überleben sich genötigt gefühlt hat, zu derartig drastischen Projektiv-Maßnahmen zu greifen, der hat nach aller Wahrscheinlichkeit sehr existenzbedrohliche und vernichtend wirkende Traumata erlebt. Ergänzung: als eine Art Mittelwert zwischen Person und Sache kommen gelegentlich auch projektive Identifikationen mit Tieren oder Pflanzen vor, z.B. habe ich mich projektiv in eine Maus verwandelt, die dann in einem Mauseloch verschwunden ist und sich auf diese Weise der Szene entzogen hat. Laut Berichten kommt z.B. auch die Verwandlung in einen fest verwurzelten Baum vor, dem der Sturm nichts anhaben kann (projektiver Versuch, die Bindung an die reale Welt in einer unaushaltbaren Zwangs-Situation nicht völlig zu verlieren).
c) Projektiver Abstand (innen / außen / Zwischenwerte):
Hierbei geht es um die Wahrnehmung, welchen Blickwinkel man auf eine Trauma-Szene hat. Manche Trauma-Erinnerungen kommen in der Form hoch, als hätte man die Szene von außen gesehen. Andere finden durchaus in der normalen "Ich"-Wahrnehmung des Alltags statt. Dazwischen gibt es alle möglichen Abstufungen.
Beispiele: viele meiner eigenen Trauma-Erinnerungen sind derart, als hätte ich als Kind eine Videokamera dabei gehabt, die die komplette Szene von außen gefilmt hat, wobei ich mich selbst von außen sehe (wie im Film). In einigen anderen Formen bin ich selber durch die Luft geflogen und habe mich dadurch der Szene entzogen (sog. "Wegbeamen"). Hier ist eine systematische Aufzählung der bei mir selbst vorkommenden Zwischenwerte, gemessen im physikalischen Entfernungs-Maß: Bei genauer Betrachtung des "Wegbeamen"-Phänomens wird klar, dass in Wirklichkeit ein zweidimensionaler Raum vorhanden ist, im dem sich sowohl der "Akteur" als auch die "Kamera" unabhängig voneinander frei bewegen können (relativ zur Szene). Es gibt Formen des Wegbeamens, wo Akteur und Kamera gleichzeitig aus der Szene "weggeflogen" sind (Abstand voneinander = Null), bei anderen aber die Kamera den weggeflogenen Akteur von außen aufgenommen hat (größerer Abstand). Wer möchte, kann die Systematik noch entsprechend verfeinern.
d) Fremdheits-Grad:
Hierbei geht es um die Betroffenen-Wahrnehmung "bin das ich?", oder "ist das ein Anderer?"
Eine Erklärung steht bereits in den obigen Beispielen. Von der Systematik her ist diese Achse jedoch unabhängig vom wahrgenommen Abstand.
Beispiele: ich selber habe nur eine bestimmte Variante sporadisch bei mir selbst wahrgenommen, nämlich dass ich mich fremd in meinem eigenen Körper fühlte. Es gibt glaubwürdige Aussagen anderer Betroffener, dass die othogonale Kombination mit verschiedenen gefühlten Abständen zwischen "Kamera" und "dem Anderem" ebenfalls vorkommt. Außerdem kommen projektive Identifikationen mit anderen Menschen vor, darunter auch häufig der Täter (vgl Stockholm-Syndrom). Auf eine weitere Variante bin ich mit Hilfe einer Schlussfolgerung gestoßen: ich fragte mich selbst, "wo war ich" während einer bestimmten Missbrauchs-Szene? Meine eigene Wahrnehmung, dass ich dabei überhaupt nicht anwesend war, kann objektiv nicht stimmen, sondern ist sehr leicht als lebensrettende Projektion zu erklären, die mir das psychische Überleben in einer unaushaltbaren Situation ermöglicht hat.
e) Äußerer Surrealitäts-Faktor, wie er von anderen Menschen wahrgenommen wird:
Wer als Traumatisierter anderen Menschen von seinen Erinnerungen oder von "inneren Kindern", von "Wegbeamen" und dergleichen erzählt, läuft u.U. Gefahr, für "verrückt" erklärt zu werden.
Einerseits mag dabei die Abwehr des Adressaten eine Rolle spielen (sowie je nach Adressat ggf auch dessen politische Interessen wie z.B. Täter-Lobby-Interessen, oder dazu gegensätzliche wie z.B. bei der Frauenbewegung), andererseits stellen manche der Erzählungen einen "harten Tobak" für jemanden dar, der mit Traumatisierten oder z.B. Pädophilen-Milieus kaum in Berührung gekommen ist. Als objektives Kriterium zur Bewertung der Echtheit von Erinnerungen ist dieser Faktor nicht geeignet. Er spielt jedoch in der Leidensgeschichte von Betroffenen oftmals eine zentrale Rolle, da er zu Rückkopplungen führen kann, die nicht selten kontraproduktiv wirken (vgl. Artikel über Psychosen).
Für Fachleute ist dieser Faktor hingegen u.U. nützlich, sofern man einen virtuellen normierten "Normaldenkenden" als Gegenüber annimmt (dessen Eigenschaften jedoch auch vom Stand der Wissenschaft und von kulturellen Faktoren mitbestimmt sind), und wenn man dessen Gegenübertragungen auf die Trauma-Erzählungen genauer unter die Lupe nimmt.
f) Interner Surrealitäts-Faktor (Selbstwahrnehmung):
Dieser kann sich in der Selbstwahrnehmung von Betroffenen manchmal deutlich von der Wahrnehmung anderer unterscheiden. Hierbei gibt es Abweichungen in beide Richtungen:
g) Projektive Zustands-Umschaltungen (Häufigkeit, Dauer, und Kontrolle darüber):
In der klassischen Analyse werden Umschaltungen in bestimmten Fällen als Regressionen bezeichnet, andere Fachrichtungen vergleichen diese eher mit Trance (z.B. Dissoziative Trance) oder sprechen von "dissoziativen Eskapaden" (z.B. bei der Dissoziativen Fugue).
Trauma-Forscher haben Hinweise darauf entdeckt, dass bei Zustands-Umschaltungen anscheinend andere Hirnregionen aktiv sind als normalerweise.
Bemerkung: seit der breiteren wissenschaftlichen Anerkennung von DIS sind Umschaltungen in verschiedene Persönlichkeits-Zustände auch auf größeres Interesse in der Öffentlichkeit gestoßen.
Was von außen vielleicht wie eine "Sensation" oder wie von einem anderen Stern aussehen mag, ist für Betroffene meistens kein unterhaltsamer Zeitvertreib, sondern stellt im Gegenteil eine extreme Einschränkung der Lebens-Tauglichkeit dar.
Erfahrungs-Hinweis: je stärker diese Achse im Einzelfall ausgebildet ist, desto höher das Risiko einer Hospitalisierung (unter den aktuellen Bedingungen des jetzigen Gesundheitssystems).
h) Bewusstheitsgrad von Zuständen (Co-Bewusstheit):
In welchem Maß ist sich der Betroffene eventueller Zustandswechsel bewusst?
Dieses wird/wurde gerne als Kriterium für Diagnosen herangezogen. Auch Betroffene ziehen aus diesem Kriterium gerne alle möglichen Schlüsse.
Nimmt man jedoch das Grundprinzip von Dissoziation ernst, wonach sich Trennungen von Nervenbahnen im Gehirn manchmal auf das Bewusstsein auswirken können, manchmal aber auch völlig andere Fähigkeiten und Gedächtnis-Arten betreffen können, dann wird einsichtig, dass dieses Kriterium nicht in dem Maße tauglich sein kann, als man es ihm bisher zubilligte.
Über das Thema Co-Bewusstheit habe ich einen eigenen Artikel geschrieben.

Die Achsen a) bis h) erlauben die orthogonale Kombination und Bewertung in jedem Einzelfall, d.h. das Ergebnis kann bei jeder einzelnen Trauma-Erinnerung oder bei jedem einzelnen Flashback anders ausfallen.

Diese Abhängigkeit vom Einzelfall habe ich nicht nur bei mir selber erlebt (Empirik), sondern ich habe auch genügend glaubwürdige Berichte von anderen Betroffenen erhalten, die dies bestätigen.

Weiterhin eignet sich die Systematik nicht nur zur Einordnung von Trauma-Erinnerungen als solchen, sondern auch zur Einordnung des Verarbeitungs-Verhaltens, das bei einem Flashback stattfindet. Wie bereits im Trauma-Artikel beschrieben, stellen Flashbacks eine Wiederholung des damaligen Traumas in der Jetztzeit dar. Wegen der damit verbundenen erneuten biologischen Reaktionen kann diese Wiederholung retraumatisierend wirken.

Die Kriterien "Zustands-Umschaltungen" und "Co-Bewusstsein" werden oftmals nur auf Flashbacks bezogen, da die Umschaltungen von Multiplen laut Beobachtungen stark mit Flashbacks verknüpft sind (oder sie werden ohne Umwege über Flashbacks direkt auf das "Sein" von Multiplen bezogen, was jedoch hochgradig problematisch ist). Es sind jedoch auch schon Fälle rekonstruiert worden, in denen Zustands-Umschaltungen wohl auch schon beim Original-Trauma in der Kindheit stattgefunden haben müssen (hierzu habe ich ebenfalls eigene Erfahrungen).

Anwendung auf das Diagnosesystem

Da die oben beschriebene Systematik bei jeder einzelnen Trauma-Erinnerung bzw bei jedem einzelnen Flashback ggf zu völlig anderen Resultaten führen kann (was durch die Natur der Trauma-Vorgänge im Gehirn leicht erklärbar ist), ist ihre Anwendung auf die Diagnose eines ganzen Patienten problematisch. Ohne längere Beobachtungen und systematisches Führen einer Häufigkeitsverteilung besteht die Gefahr, dass eine Momentaufnahme unzulässigerweise auf einen längerfristigen Zustand des Patienten generalisiert wird.

Wendet man die beschriebene Systematik dennoch auf größerer Granularitäts-Ebene auf ein psychiatrisches Störungsbild an (unter Beachtung der damit verbundenen Problematiken, darunter auch interessante Hinterfragungen der Aussagekraft solcher Verdichtungen im Falle von wenig korrelierter Häufigkeitsverteilung, die durchaus schon beobachtet wurden; siehe auch Schwierigkeiten bei Borderline-Diagnosen), so kann man sehen, dass der Kerngedanke der wichtigsten bekannten Haupt-Diagnosen aus dem dissoziativen Bereich damit dargestellt werden kann:

Gedächtnis-Arten Personalitätsgrad Projektiver Abstand Fremdheitsgrad Externe Surrealität Interne Surrealität Zustands-Umschaltungen Co-Bewusstheit
Dissoziative Trance / Fugue mind. Bild + Ton egal, eher hoch gering egal, eher hoch sehr hoch unterschiedlich deutlich vorhanden eher gering
Derealisationsstörung egal extrem niedrig eher hoch sehr hoch eher hoch sehr hoch egal egal
Depersonalisationsstörung mind. Bild + Ton eher hoch egal, eher hoch egal, eher hoch egal, eher hoch egal egal egal
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) egal (alle Kombinationen) egal, eher hoch egal egal, eher hoch sehr niedrig
(ansonsten wird die
Diagnose ungern vergeben)
egal, eher niedrig egal, eher niedrig eher hoch
Multiple Persönlichkeitsstörung (MPS, veraltet) mind. Bild + Ton eher hoch sehr gering in der Regel gering sehr hoch eher niedrig extrem hoch durfte nicht vorhanden sein
Dissoziative Identitätsstörung (DIS) mind. Bild + Ton eher hoch egal in der Regel gering sehr hoch egal, eher niedrig extrem hoch nunmehr egal
Borderline egal eher hoch egal, eher gering eher gering egal, eher gering egal, eher niedrig mäßig bis hoch egal
Psychose egal, Einzel-Kanäle bevorzugt eher gering eher hoch endogen: sehr hoch
exogen: egal
sehr hoch egal, hoch bevorzugt egal, hoch bevorzugt egal
Hinweis: die einzelnen Diagnosen enthalten natürlich teilweise noch weitere Kriterien, die in diesem Schema nicht enthalten sind. Man könnte natürlich noch weitere Kriterien aufnehmen. Ob es dadurch besser oder einfacher zu diagnostizieren wird, steht auf einem anderen Blatt (eine systematische Evaluation aller Kriterien-Kandidaten und des davon aufgespannten Produkt-Raums steht noch aus).

Beispiel: ein möglicher Kriterien-Kandidat wäre das Auftreten sogenannter "Zeitlücken". Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass ich manchmal welche habe, die ich selber nicht direkt wahrgenommen habe, sondern die sich mir indirekt erschlossen haben (genauer: wie soll ich ohne ein Zeitgefühl feststellen, ob etwas mit dieser Zeit nicht stimmt? Das dahinter steckende philosophische Grundproblem, auch "Ignoranz zweiter Ordnung" genannt: woher kann ein Ignorant wissen, dass er ignorant ist?). Ich traue mich daher gegenüber Wissenschaftlern nicht, aus den Zeitlücken ein "objektives" Kriterium zu machen. Wenn man es schon selber nicht sicher feststellen kann, wie sicher sind dann Feststellungen von Diagnostikern? Sind Lücken im Zeitgefüge (die sich als dissoziative Wahrnehmungs-Unterbrechungen sehr leicht erklären lassen) wirklich derartig entscheidende Killer-Argumente, bei deren Auftreten (bzw schwer nachweisbarem Nicht-Auftreten) eine vollkommen andere Diagnose gestellt werden müsste?

Anmerkung zu diesem Beispiel: zum Glück schreibe ich hier keinen Artikel über Amnesien. Dort ist die geschilderte Erkennbarkeits- und Nachprüfbarkeits-Problematik noch viel schlimmer. Wie im Borderline-Artikel erklärt ist, fallen auch Wissenschaftler mehr oder minder regelmäßig auf die damit verbundenen logischen und systematischen Probleme herein, die meistens bei der Negation von quantifizierten Aussagen entstehen.

Anmerkung: Um die Klarheit in einigen bisherigen Fachdiskussionen zu verbessern, könnte man auch die "Schneiderschen Symptome ersten Ranges" / katatone Symptome etc mit aufnehmen. Dann könnte man besser erkennen, dass diese nicht nur bei "organisch bedingten Störungen" auftreten können (vgl Arbeiten von Nijenhuis). Inwieweit diese jedoch diskriminatorische Aussagekraft für die Richtung einer Störung haben, mag dahingestellt sein. Sie könnten nach meinem Dafürhalten eher einen Indikator dafür darstellen, wie weit ein Krankheitsbild bzw ein Zustand der Verwahrlosung und der Verzweiflung beim Betroffenen bereits fortgeschritten ist (ebenso wie ggf ein zusätzlicher Hospitalisierungs-Indikator).

Hinweise für Wissenschaftler

Die obige Systematik stammt von einem Wissenschaftler einer völlig anderen Fachdisziplin, der gleichzeitig auch Betroffener ist (mir). Da ich hier im Internet anonym unterwegs bin, stellt dieser Artikel keine "offizielle" zitierfähige wissenschaftliche Arbeit dar, sondern soll anregenden Charakter für weitere Arbeiten anderer tragen.

Auf der einen Seite kann man mir mangelnde Detail-Fachkenntnise und eigene Interessen (als Betroffener) vorwerfen (Störung der Objektivität), auf der anderen Seite erlaubt mir meine wissenschaftliche Grundausbildung vermutlich aber eher einen "Blick von außen" aus größerer Flughöhe, ohne Ballast der bisherigen Forschungs-Geschichte der Ziel-Fachdisziplin und den dahinter stehenden Forschungs-Interessen (die es sicherlich ebenfalls geben dürfte, wie in allen Fachdisziplinen). In diesem Sinne hoffe ich, einen Beitrag zur Diversität von Fachmeinungen leisten zu können.

Die obige Kategorisierung stützt sich vorrangig auf empirische Beobachtungen, die natürlich im Sinne einer akzeptablen wissenschaftlichen Theorie noch nicht genügend abgesichert worden sind (Ableitung aus Beispielen) und mehr den Charakter einer Theorie trägt, deren Allgemeingültigkeit (bzw deren Vorbedingungen für eine eventuelle Teil-Gültigkeit) noch zu überprüfen ist. Möglicherweise sind in der Tabelle Fehler und Lücken vorhanden (wie in der Praxis bei jeder wissenschaftlichen Arbeit). Ich habe lediglich meinen eigenen aktuellen Wissensstand aufgeschrieben.

Die obige Tabelle weist trotz dieser Einschränkungen auf einige Fehler im aktuellen psychiatrischen Diagnosesystem hin:

Vollständigkeit:
Auch unter der Annahme, dass nicht das vollständige Kartesische Produkt auf allen oben beschriebenen Achsen in der Praxis vorkommt (oder gleich häufig auftritt, was sicherlich nicht der Fall sein wird), springt dennoch sofort ins Auge, dass die obigen Diagnosen nur einen Teil des insgesamt vorhandenen mehrdimensionalen Raumes abdecken.
Beispielsweise spielt die "externe Surrealität" bei allen zitierten Diagnosen (zumindest in der Praxis) eine starke diskriminatorische Rolle, die sie nach meiner eigenen Erfahrung / Einschätzung nicht in diesem Maße haben sollte und die ich deshalb anzweifele. Möglicherweise sagt dieses Kriterium mehr über den Diagnostiker und die aktuelle Gesellschaft aus als über den Patienten.
Überschneidungen:
Dieser Punkt dürfte jedermann sofort ins Auge springen.
Als Ursache kommt in Frage, dass Psychiater in der Praxis nur einen Teil dessen zu sehen bekommen, was wirklich vorkommt (z.B. genügender Leidensdruck bei Betroffenen). Von diesem Teil ist oftmals wiederum nur ein Unter-Teil für die gerade angesagte Forschungsrichtung relevant. Das psychiatrische Klassifikationssystem hat sich schließlich ebenfalls empirisch entwickelt.
Mir ist bekannt, dass das Thema der Differentialdiagnosen und der Abgrenzungs-Kriterien in vielen Fachdiskussionen eine bedeutende Rolle spielt. Das Überschneidungs-Problem ist schon vielen anderen Wissenschaftlern aufgefallen. Ebenso ist mir bekannt, dass die in den letzten Jahren neu entstandene Fachdisziplin der Traumatologie bereits an ähnlichen Modellen arbeitet, die teilweise ebenfalls nach dem Prinzip des Kartesischen Produkts aufgebaut sind. In der psychiatrischen Praxis scheinen diese Problematik und neuere Modelle jedoch weniger bekannt zu sein bzw beachtet zu werden.

Die obige Kategorisierung mittels orthogonaler Achsen skizziert bereits eine Lösungsidee, die jedem Wissenschaftler sofort einleuchten dürfte (falls er sie nicht sowieso schon selber gehabt haben sollte). Im Detail sollten natürlich noch Verbesserungen und Korrekturen am obigen Modell vorgenommen werden. Möglicherweise sind nicht alle Achsen gleich relevant, oder eine Achse lässt sich ggf als (wahrscheinlichkeitstheoretische) Beinahe-Linearkombination anderer Achsen darstellen (vgl mathematische Eigenschaften einer orthogonalen Basis).

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass ich in die obige Tabelle eine psychiatrische Störung "eingeschmuggelt" habe, die nach bisheriger Mehrheits-Meinung keine dissoziative Störung darstellt: nämlich die Psychose.

Der Hauptgrund ist, dass Betroffene von sexuellem Missbrauch und anderer schwerer Kindheits-Traumata immer wieder von Fehldiagnosen existentiell betroffen werden, die unser bisheriges psychiatrisches Klassifikationssystem ermöglicht (erst recht in Anwesenheit von Mess- und Beurteilungs-Fehlern bei der Diagnosestellung).

Die ins Auge springende großflächige Überlappung der Psychose mit anderen Störungen dissoziativer Ätiologie (insbesondere der Derealisation) soll auf dieses Problem aufmerksam machen und die Frage aufwerfen, ob die bisherige Maxime, man könne von beobachteten Symptomen zuverlässig auf die Grundstörung schließen, überhaupt weiter haltbar ist. Oder auf eine andere Lösung: vielleicht liegt es gar nicht (so sehr) am bisherigen Grundprinzip der Rückschließbarkeit, sondern (eher) daran, dass einige bisherige Ätiologie-Hypothesen schlichtwegs falsch sind?

Ggf ist zu fragen, ob es neben der Psychose noch weitere Kandidaten gibt, deren Ätiologie überprüft werden sollte. Beispielsweise diskutiert Fiedler die Abgrenzungs-Problematik verschiedener Varianten von Schizophrenie mit verschiedenen dissoziativen Störungen, ohne dabei jedoch die Grundhypothese der "organisch bedingten Störung" in Frage zu stellen, was ich hiermit tue (da ich mir als Internet-Anonymus diesen politischen Paukenschlag entgegen massiver bisheriger politischer Lobby-Interessen leichter leisten kann).

Speziell zur Psychose: könnte die Ursache der in der Praxis immer wieder beobachtenen Fehldiagnosen auch darin liegen, dass ihre bisherigen Ätiologie-Hypothesen möglicherweise schlichtwegs falsch sind, und bisherige Stützungs-Argumente für die falsche Ätiologie möglicherweise ebenfalls falsch interpretiert worden sind?

Hierzu eine Liste von Ungereimtheiten:

Vor dem Hintergrund des letzten Punktes möchte ich auf die Gefährlichkeit von bestimmten Medikamenten aufmerksam machen, die bei Betroffenen in vielen Fällen offenbar zu einer Verschlimmerung von Dissoziationen geführt haben (zusätzlich zur Nicht-Behandlung ihrer Kernstörung aufgrund von Fehldiagnosen).

Sehr stark vereinfacht sehen die Wirkungs-Ketten der beiden rivalisierenden Lager ganz grob etwa folgendermaßen aus:

Organisch bedingte Störung:
Botenstoff-Störung ==> Krankheitsbild
Trauma-bedingte dissoziative Störung:
Trauma-Einwirkung ==> Botenstoff-Störung ==> Krankheitsbild
Fällt jemandem etwas auf? Die Struktur(!) der ersten Wirkungskette stellt eine echte Teilmenge der zweiten Wirkungskette dar. Gilt dies nur für die Struktur, oder eventuell auch für (Teile des) Inhalts?

Als Abschluss dieses Abschnitts nun die politisch brisante Kernfrage: ist die Psychose möglicherweise bisher komplett falsch eingeordnet, da sie möglicherweise in Wirklichkeit eine dissoziative Störung darstellt? Ist die Grund-Hypothese einer organisch bedingten Störung (deren genaue Ursache man bisher nicht kennt) noch haltbar (vor dem Hintergrund, dass die Ursachen dissoziativer Störungen um Größenordnungen besser bekannt und experimentell abgesichert sind)?

Achtung! die Nicht-Auffindbarkeit eines Traumas in der Vorgeschichte eines Psychose-Patienten stellt keinen "Gegenbeweis" gegen die obige Hypothese dar. Wie im Borderline-Aktikel unter "Faktor Amnesie" ausführlicher erklärt ist, begehen manche Wissenschaftler bei derartigen Schlüssen grundlegende Denkfehler, die mit den Grundlagen der mathematischen Logik / Prädikatenlogik nicht vereinbar sind.

Hinweise für Betroffene

Viele Betroffene von dissoziativen Störungen wie DIS, Depersonalisation etc leiden unter den oben beschriebenen Selbstbildern (und noch vielen weiteren).

Aktuell immer noch gültige Diagnosesysteme fügen diesen ohnehin schon schwer verdaulichen Selbstbildern weitere hinzu.

Weitere Quellen von problematischen Selbstbildern liegen im Internet und stammen manchmal auch von anderen Betroffenen. Zu diesen problematischen Selbstbildern zählen:

Abtun

Über die Problematik des Abtuns von Erinnerungen habe ich bereits in einem eigenen Artikel geschrieben. Die Problematik ist jedoch umfassender: wenn beispielsweise in der Dimension a) die zugehörigen Gefühle weitgehend fehlen und in den Dimensionen d) und f) weitere subjektive Erschwernisse hinzukommen, wird das Abtun ziemlich leicht. Abtun wird sehr häufig vom sozialen Umfeld gefördert oder sogar initiiert.

Allerdings hilft das Abtun nicht, sondern schadet: die Erinnerungen können dann obsessiven Charakter bekommen, d.h. man kann sie nicht abschütteln, sie begleiten einen ständig. Dies kann sich leicht bis zu erneut unaushaltbaren Situationen steigern. Derart immer weiter verkomplizierte Verarbeitungs-Muster können schließlich irgendwann in die Psychiatrie führen, falls man zufälligerweise auch noch an Diagnostiker gerät, die die Dimension e) als entscheidend ansehen.

Leichtere Formen des Abtuns sind auch in meinen Artikeln über Verharmlosungen und Umdeutungen beschrieben.

Barnehmen

Eine der weitaus häufigsten Formen des wortwörtlichen Barnehmens sind Selbstbilder von Multiplen, die glauben, dass mehrere echte Personen in einem Körper vorhanden seien.

Derartige Selbstbilder sind nachweislich falsch: wie bereits im Multi-Artikel erklärt wurde, müsste jede dieser "Personen" das Schreiben/Lesen wie in der Grundschulde sowie das Sprechen wie bei einem Kleinkind erneut gelernt haben. Dies hätte Jahre an Zeit und vor allem Übung / Training (in Echtzeit) erfordert, die aber bei den typischen Multi-Aufspaltungen nicht vorhanden war (denn die dazu verfügbare Lebenszeit hat sich ja nicht gleichzeitig ver-n-facht).

Nun ist aber auch das genaue Gegenteil davon genauso falsch: Multiple Persönlichkeiten gibt es, und zwar nachweislich, wie man mittels bildgebender Verfahren der Gehirnvorgänge hat zeigen können, die beim Umschalten (Switchen) stattfinden.

Des Rätsels Lösung wird klar, wenn man anfängt, zwischen "Personen" und "Persönlichkeiten" genauestens zu unterscheiden. Bei Persönlichkeiten gibt es nämlich weitere Möglichkeiten, insbesondere die Co-Bewusstheit.

Auch das Umschalten (Switchen) hat dann nichts mehr mit dem "Herauskommen" von "echten Personen" zu tun, sondern stellt eine Modus-Umschaltung einer einzigen echten realen Person (die einen einzigen echten Personalausweis besitzt) dar.

Hat man diesen Gedanken erst einmal akzeptiert (bzw die dazu gehörenden Selbsterfahrungen(!) erst einmal wahrgenommen und nicht mehr durch die "Personen"-Brille interpretiert), dann sind weitere Schritte der Heilung möglich:

... und natürlich braucht man unbedingt einen einfühlsamen Psychotherapeuten (am besten aus dem Spektrum der Humanistischen Psychologie), der einem dabei hilft.

Leider gibt es auch Therapeuten, die sich am Barnehmen beteiligen (vermutlich aus Übereifer) und damit letztendlich Schaden anrichten. Aus diesem Grunde tauchen in der unteren Literaturliste einige Bücher absichtlich nicht auf, die in manchen Internet-Foren sogar als angebliche "Standard"-Werke zu diesem Themenkomplex gehandelt werden.

Etwas subtilere Varianten des Barnehmens bzw dessen Gegenteils sind in meinem Artikel über Träume und Traumdeutungen erwähnt.

Merksatz: Realitätskontrolle ist das A und O. Diese dient aber nicht zum Verwerfen von Erinnerungen, sondern zur Bestimmung der Funktion, die eine dissoziative Projektion hatte oder noch hat.

Literatur