Soll man Täter-Kontakt pflegen?

Diese Frage wird trotz gegenteiliger Beteuerungen sehr kontrovers diskutiert. Angeblich solle der Wille oder das Bedürfnis des Betroffenen im Vordergrund stehen. Dem ist jedoch nicht immer wirklich so.

In letzter Zeit häufen sich öffentliche Aussagen von Therapeuten / sogenannten "Experten", die Täter-Kontakte zu nahen Angehörigen (wenn diese gleichzeitig Täter sind) befürworten oder gar als "wichtig" darstellen.

Bei genauerem Hinsehen kann ich darin ein Muster entdecken: diese Leute stammen gehäuft aus einem Milieu von systemischen Familientherapeuten.

Allerdings kommt Parteinahme für Täter-Interessen auch bei anderen Therapie-Richtungen vor.

Hinweis: bei diesem Thema gibt es keinen allgemeingültigen Rat, der für alle Betroffenen und ihre Situationen passend wäre. Ich wehre mich hier gegen Versuche, derartige Ratschläge bzw Beeinflussungen mit einer bestimmten Zielrichtung auszuführen.

Praxis der Täter-Kontakt-Pflege

Schauen wir uns erst einmal die praktischen Auswirkungen dieser "Empfehlungen" an:

Ich kenne keinen einzigen Betroffenen, für den der Täter-Kontakt etwas ganz normales, harmloses, alltägliches wäre.

Für fast alle Betroffenen stellt das Zusammensein mit ihrem sexuellen Missbraucher eine starke Belastung dar.

Manche fallen danach regelmäßig in Depressions-Löcher, bei einigen häufen sich danach die Selbstmord-Anwandlungen oder andere SVV-Muster.

Dies wird von Befürwortern von Täter-Kontakten oft ignoriert, bagatellisiert oder gar geleugnet. Angeblich sei Täter-Kontakt problemlos möglich. Wenn nicht, dann sei der Betroffene halt noch nicht wirklich geheilt.

Bei Fällen, in denen der angeblich so hilfreiche Kontakt zu Wiederholungen von (teils sadistischen) Missbrauchs-Handlungen geführt haben, will ich gar nicht erst ins Detail einsteigen. Derartiges kommt durchaus vor. Auch und gerade bei erwachsenen Opfern! Ich kenne derartige Berichte aus erster Hand.

Eigentlich sollte ich (genauso wie andere Betroffene) niemandem Rechenschaft darüber ablegen müssen, weshalb ich mit wem Kontakte pflege, oder auch ganz bewusst nicht. Die Einmischung dieser Leute in die öffentliche Wahrnehmung von Betroffenen sexuellen Missbrauch zwingt mich aber zu einer Stellungnahme.

Anschaulicher Vergleich

Wie fühlt sich Täter-Kontakt für Betroffene an?

Wer nicht sexuell oder sadistisch missbraucht wurde, kann dieses Gefühl nicht kennen. Ich versuche es trotzdem näherungsweise zu beschreiben.

Es handelt sich um einen Gefühls-Cocktail mit sehr vielen verschiedenen Zutaten. Das Prinzip ist im Artikel über Ambivalenzen erklärt. Hier nur einige für die vorliegende Problemstellung wesentliche Gefühle und Einstellungen:

Systemische Theorien dazu

Systemische Therapie-Richtungen betrachten durch ihren Ansatz absichtlich nur denjenigen Ausschnitt aus der Realität, der mit den Interaktionen in einem Gruppen-Gefüge zu tun hat. Andere Aspekte werden teilweise absichtlich ignoriert, oder nur bei anscheinend vorhandenem Bedarf mit einbezogen.

Viele systemische Schulen sind der Ansicht, dass sexuell Missbrauchte nur dann heilen könnten, wenn das gesamte Familien-System geheilt würde.

Von einigen wird behauptet (persönliche Kommunikation mit einem systemischen Therapeuten), bestimmte Beziehungen wie z.B. die Mutter-Kind-Beziehung seien so wichtig, dass sie vorranging vor anderen Dingen in Ordnung gebracht werden müssten.

Fehler in der Theorie

Keine / unvollständige / fehlerhafte Täter-Konfrontation

Häufig werden Täter-Kontakte sogar dann empfohlen oder in der Praxis durchgeführt, wenn das Missbrauchs-Geschehen nicht, unzureichend oder unzutreffend vom Täter akzeptiert und seine volle Verantwortung dafür nicht wirklich übernommen wurde.

Ohne diese Grund-Voraussetzung geschieht folgendes:

Wie im Artikel über Konfrontation von Tätern genauer erklärt ist, bedarf eine Konfrontation einer sehr langen und ausführlichen Vorbereitung. Ihre Durchführung stellt ein erhebliches Risiko dar. Sie wird fast immer erst am Ende eines langen Therapie-Weges überhaupt erst möglich sein. Ob sie dann noch sinnvoll und nützlich ist, steht je nach Umständen wie z.B. hohes Alter von Tätern, juristische Risiken etc auf einem anderen Blatt.

Damit ist dieser von Befürwortern des Täter-Kontakts propapierte Heilungs-Weg schlichtwegs nicht gangbar!

Falsche Prioritäten

Bei einem Fremd-Täter, der hinter dem Busch lauert, verlangt normalerweise niemand vom Opfer, dass es zu diesem eine "gute Beziehung" pflegen soll.

Einige systemische Familientherapeuten und andere verlangen aber genau dies, falls der Täter ein naher Angehöriger ist. Beispiel-Begründung dieser Position: ansonsten sei die Beziehungs-Verweigerung eine vom Opfer verursachte Störung des natürlichen Beziehungs-Gefüges, die (oftmals vorranging) behandelt werden müsse.

Wer auch nur ein wenig auf Abstand zu dieser Aussage geht, kann leicht erkennen, dass hier Täter- und Opfer-Verantwortung unzulässigerweise vertauscht wurden.

Der Störer ist immer der Täter.

Deshalb haftet er auch für Beziehungs-Störungen, die als Folge entstehen.

Wenn jemand die Aufgabe hätte oder haben sollte, das Beziehungsgeflecht zu korrigieren, dann wäre dies der Täter. Das Opfer kann dafür nicht haftbar gemacht werden. Es kann auch ohne Haftungs-Zuschreibung nicht für das "Aufräumen" der "Beziehungs-Misere" eingespannt werden, auch nicht "freiwillig". Das wäre, wenn überhaupt, ausschließlich die Aufgabe des Verursachers.

Jeder Mensch sammelt im Laufe seines Lebens sogenannte "Beziehungs-Leichen" an. Weshalb sollte er dies bei einem Täter nicht tun dürfen, ohne dass ein Therapeut meint, "korrigierend" eingreifen zu müssen? Nur weil dieser Mensch ein naher Angehöriger ist?

Falsche Verantwortungs-Zuweisung

Einige Hardcore-Vertreter systemischer Richtungen gehen so weit, die Verantwortung für sexuellen Missbrauch grundsätzlich (oder wenigstens vorrangig) dem Familiensystem als solchem zuzuweisen, nicht aber einem einzelnen Individuum, insbesondere nicht (oder nur nachrangig) dem Täter.

Dadurch wird zumindest indirekt dem kindlichen Opfer eine Mitschuld zugewiesen.

Das ist grundlegend falsch.

Nicht nur bei sexuellem Missbrauch von Babies.

Denn dann hätte grundsätzlich jeder Täter von jeglichen Verbrechen (also beispielsweise auch Hitler oder Stalin) keine Schuld.

Jeder Täter hat immer die freie Entscheidung, die Tat zu begehen oder nicht. Ansonsten wäre er kein Täter. Hätte er sich anders entschieden, wäre die Tat nicht begangen worden.

Derartige Standpunkte leugnen die freie Willensentscheidung des Täters bei seiner Tat vertreten klaren und offensichtlichen Täter-Lobbyismus.

Fehler im Kern-Credo

Ein Kern-Credo der systemischen Familientherapie lautet: die Beziehungen zwischen Eltern und Kinder sind und bleiben lebenslang die wichtigsten Beziehungen im Leben.

Ist dies korrekt?

Bei Kindern: normalerweise ja. Die Evolution hat die Eltern-Kind-Bindung erfunden, damit das Kind von den Eltern versorgt wird und überleben kann. Ohne diesen Mechanismus würden wir nicht existieren, weil unsere Vorfahren nicht überlebt hätten.

Bei Erwachsenen: nicht mehr unbedingt. Erwachsene können sich von ihren Eltern emotional sehr weit loslösen und andere Beziehungspartner mit einer deutlich stärkeren Beziehung / Bindung finden, beispielsweise bei der klassischen Ehe. Dies kann man sogar in der Bibel nachlesen.

Damit fällt auch eine Begründung für den angeblich so unbedingt notwendigen Kontakt zu Vätern / Müttern weg, wenn diese gleichzeitig Täter sind.

Übrigens: auch in der Steinzeit kam es desöfteren vor, dass Kinder ihre Eltern durch Tod verloren. Trotzdem sind diese Kinder nicht verhungert, sondern in der Sippe großgezogen worden. Die Bindungen funktionieren auch mit Ersatz-Eltern. Auch in meiner Ahnen-Reihe sind sicherlich derartige Fälle dabei. Woher, bitteschön, folgt die angeblich zwingende Notwendigkeit, man dürfe Kinder nicht vor missbrauchenden Eltern durch Herausnahme des Täters aus dem Familiensystem schützen? Wer hat das Recht, dies im Namen des Opfers für es zu entscheiden?

Ich selbst hatte als Kind keine Wahl: obwohl ich meiner Herkunfts-Familie entfliehen wollte, wurde ich gezwungen, meine gesamte Kindheit mit den Tätern zusammen zu verbringen. Unter den davon hervorgerufenen Schäden leide ich heute noch. Ich glaube heute, dass ein Kinderheim für mich besser gewesen wäre. Wer dies nicht nachvollziehen kann, der kann oder will sich offenbar die Hölle nicht vorstellen, in der ich leben musste.

Falsche Interpretation von Ambivalenzen

Wenn sonst nichts hilft, ziehen Befürworter von Täter-Kontakten ihren vermeintlichen Haupt-Trumpf aus dem Ärmel: die Ambivalenzen.

Die Ursachen für diese Ambivalenzen liegen im Täter-Verhalten.

Ausbaden muss sie aber das Opfer. Es wird davon regelmäßig beinahe innerlich zerrissen.

Seit ich den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen habe, geht es mir besser. Die Ambivalenzen sind besser aushaltbar geworden. Ständiger Täter-Kontakt macht es nur schmerzhafter. Denn lösen kann er die Ambivalenz in keinem Fall.

Wer meint, der Kontakt zu Mutter oder Vater sei wichtiger als (oft abgespaltene, nicht wahrgenommene und nicht bearbeitete) Hassgefühle: derjenige ergreift damit Partei für die Täter-Seite.

Weshalb?

Weil es bei sexuellem Missbrauch keine "Neutralität" oder "Ausgewogenheit" gibt. Wer derartiges vorgibt anstreben zu wollen, der hat in Wirklichkeit bereits die Täter-Partei ergriffen.

Das zentrale Wesensmerkmal des sexuellen Missbrauchs von Kindern ist die extreme Unfairness.

Eine Ameise hat gegen einen Raubvogel keine Chance, außer sich zu verstecken.

Wer einen neutralen Kampf zwischen diesen Kontrahenten ausfechten will, der unterstützt damit automatisch eine bestimmte Seite. Automatisch.

So ist es auch beim sexuellen Missbrauch.

Kinder haben, auf sich alleingestellt, keine Chance dagegen.

Absolut gar keine.

Nur wenn Helfer einspringen, die Partei ergreifen, haben sie überhaupt eine Chance.

Dies ist auch bei erwachsenen Opfern so. Auch sie regredieren in die Kind-Rolle. Ihnen sitzt die Erfahrung im Nacken, was auf körperlicher Ebene beim Missbrauch geschehen ist. Mit reinen Geistesübungen kann man diese Rolle nicht abschütteln. Diese Rolle prägt, auch den Erwachsenen.

Merksatz: daher muss jegliche Missbrauchs-Therapie immer parteilich für das Opfer sein.

Wer dies missachtet oder gar "gute Beziehungen" zum Täter fördern will, arbeitet automatisch für die Täter-Seite. Ob er das will, oder nicht.

Risiko von Grenzüberschreitungen

Betroffene von sexuellem Missbrauch haben Schwierigkeiten, Grenzen zu erkennen und zu verteidigen. Der Missbraucher hat ja alle diese missachtet.

Geschieht derartiges in einer Therapie, kann es sehr leicht fatal wirken. Die Hoffnungslosigkeit verschütteter Therapie-Wege ist z.B. in meinem Psychiatrie-Artikel angedeutet.

Wenn ein Therapeut darauf hinarbeitet, dass das Opfer dem Täter verzeihen solle, stellt dies einen schwerwiegenden Eingriff in seine Autonomie dar und damit nicht nur einen schwerwiegenden Behandlungsfehler, sondern auch eine schwere Verletzung grundlegender Menschenrechte, die in ihrer tatsächlichen unterschwelligen Wirkung durchaus einem Missbrauch gleichkommen kann.

Da die Ideologie des Verzeihen-Sollens (auch unterschwellig, z.B. Darstellung als "beglückend" oder "erstrebenswert") mit der Ideologie der "guten Beziehungen" zum Täter verwandt ist, ist die Gefahr besonders groß, dass systemische Therapeuten diese schweren Missachtungen der Persönlichkeitsrechte häufiger begehen.

Keine wirkliche Gleichberechtigung auf Erwachsenen-Ebene

Das Hauptproblem systemischer Ansätze: sie gehen davon aus, dass ein Ausgleich von Interessen durch Verhandeln möglich ist.

Wer abgespaltene / dissoziierte Gefühle mit sich herumschleppt, der kann aber nicht verhandeln.

Obendrein kann eine Ameise mit dem Raubvogel grundsätzlich nicht verhandeln.

Wird ein Opfer trotzdem von systemischen Familien-Therapeuten zu irgendwelchen Verhandlungen gezwungen (was mir ährend meiner Dekompensations-Phase passiert ist), führt dies zu einem fatalen Unterbuttern seiner Interessen, ohne dass er sich dagegen wirksam wehren könnte. Eine derartige "Therapie" führt zur Wiederholung der Macht-, Hilf- und Sprachlosigkeit als Opfer, und oftmals auch zu Retraumatisierungen.

Ich spreche aus eigener leidvoller Erfahrung mit systemischer Familientherapie.

Ich bin mir sicher, dass der systemische Ansatz aufgrund seiner inneren Konstruktionsweise zur Behandlung von sexuellem Missbrauch vollkommen ungeeignet ist.

Er richtet im Regelfall Schaden an. Und zwar per Konstruktion.

Alternativen dazu / Erkenntnis der Problemstellung

Einige Alternativen zu ungeeigneten Therapieformen wie systemischer Therapie sind bereits in meinem Artikel über Therapieformen beschrieben worden.

Hier die Kernprobleme von erwachsenen Opfern in der Beziehung zu ihren Tätern bzw deren Unterstützern:

Kernfrage an die Betroffenen: für wen willst Du eine Psychotherapie machen: für dich, oder für die Täter? Für wen willst du dasein? Wem willst du dein zukünftiges Leben widmen?

Frage dich, welche Therapie-Richtung wessen Interessen vertritt: diejenigen des Täters, oder diejenigen des Opfers.

Nochmals: jede Therapie-Form, die nicht parteiisch für die Opfer-Seite arbeitet, arbeitet automatisch parteiisch für die Täter-Seite.

Dies ist zwangsläufig so, wegen des Nicht-Spürens der eigenen Bedürfnisse.

Wichtiger Hinweis für Betroffene, die am Anfang ihrer Aufarbeitung stehen und bisher regelmäßigen Täter-Kontakt hatten: das Auflösen einer Bindung kostet sehr viel Kraft / Energie und führt oft zu existentieller Angst vor Bindungsverlust (siehe auch "Urangst vor dem Verlassenwerden" im Ambivalenz-Artikel). Daher muss man genau abwägen und regelmäßiges Feedback auswerten, ob und mit welchem Tempo / über welche Zwischenschritte der Täter-Kontakt ggf reduziert werden kann / soll, um diese Nachteile zu begrenzen. Schlagartige Abbrüche gelingen nur selten, schlagen oft ins Gegenteil um, und verstärken die Ambivalenzen meist nur. Langsame Ablösungs-Prozesse sind meist leichter, auch und gerade wenn sie Jahre dauern.