Viele Täter sorgen dafür, dass Opfer nicht darüber sprechen können, was ihnen angetan wurde. Opfer sexuellen Missbrauchs werden fast immer zum Schweigen vergattert. Manchmal geschieht dies auf sehr subtile Weise. Manchmal aber auch richtig brutal.
Ich habe Teile des mir auferlegten Redeverbots erst neulich in der Therapie entdeckt. Es war wie vieles andere verdrängt, abgespalten und dissoziiert.
Am Anfang meiner Grundschulzeit hatte ich Schwierigkeiten, soziale Kontakte zu knüpfen. Im Laufe der Zeit habe ich jedoch Freundschaft mit drei anderen Jungen geschlossen: Dieter, Klaus und Andreas. Beim Klaus war ich eine Zeitlang sehr gern und sehr oft. Wie mir jetzt wieder eingefallen ist, habe ich ihn ursprünglich sehr gerne besucht und viel mit ihm gespielt. Weil ich mich dort so wohl fühlte, habe ich irgendwann begonnen, etwas zu erzählen, was mir auf der Seele lag. Was das genau war, weiß ich im Moment nicht mehr (das Thema löst jedenfalls bei mir Panik aus, da es nicht nur mit Redeverbot, sondern auch mit "Denkverbot" belegt ist). Späterer Einschub: ich muss der Mutter von Klaus etwas über den Missbrauch erzählt haben. Ich habe jetzt doch wieder eine ganz konkrete kurze szenische Erinnerung daran. Was ich aber weiß: die Mutter von Klaus ging zu meiner Mutter und stellte sie offenbar (wie mir heute als Erwachsener klar ist) zur Rede, weil sie mitbekommen hatte, dass da was nicht stimmte. Wenn ich mich nicht täusche, spielte Klaus' Mutter auch eine Rolle als bereits vernommene Zeugin bei der späteren Polizei-Vernehmung. Meine Mutter leugnete nicht nur alles ab, sondern beschimpfte mich für meine "Ausplaudereien" und verbot mir nicht nur das Reden über unsere Familie bei anderen Leuten, sondern verbot mir jeglichen Kontakt mit dem Klaus. Sie reagierte in einer psychisch verrückten Weise, die mir heute noch schwer zu schaffen macht:
Meine Mutter neigt sowieso zu einem Schwarz-Weiß-Denken und teilt alle Menschen in zwei Klassen ein: die guten und die bösen. Oder genauer: die guten und die heimtückischen. Plötzlich war der Klaus einer von den heimtückischen. Angeblich soll er mich geschubst haben, ohne dass ich das bemerkt haben soll, und er soll total heimtückisch über mich gelacht und mich verspottet haben und mich ausgetrickst haben, wo es nur ging. Davon weiß ich aber nichts. Was mir dagegen jetzt wieder langsam ins Bewusstsein kommt, das sind die Drohungen, die meine Mutter ausgesprochen hat, falls ich noch einmal bei anderen Leuten etwas über die wahren Zustände in meiner Herkunftsfamilie ausplaudern sollte. Was das genau für Drohungen waren, ist im Moment noch abgespalten, aber ich habe jetzt einen Gefühlszugang dazu gefunden. Es war für mich ganz eindeutig existenzbedrohend. Wenn der Vogel zu laut zwitschert oder das "falsche" Lied singt, dann wird ihm der Hals rumgedreht.
Mir kommen die Tränen, wenn ich daran und an die Folgewirkungen denke. Dass ich eine Zeitlang nur noch stotternd geredet habe. Dass ich als Schulkind nicht nur diesen, sondern alle meine Freunde bis auf eine (TÜV-geprüfte) Ausnahme aufgeben musste. Dass ich als Jugendlicher keine Freundin haben durfte. Dass mir der Kontakt zu anderen Kindern im Dorf systematisch vermiest wurde, und ich nur einen wöchentlich stundenweise beschränkten Gruppenkontakt in der Musikschule der nächsten Kleinstadt haben durfte, wo abends kein Bus mehr fuhr.
Ihre jahrelange und sehr häufig wiederholte Indoktrination hatte jedenfalls zur Folge, dass ich am Ende wirklich glaubte, der Klaus sei ein böser Kerl, der mir nur schaden wolle. Das kann aber nicht stimmen. Wieso habe ich mich dieser Verdrehung nur so kritiklos angeschlossen? Wahrscheinlich blieb mir wegen der Existenzbedrohung nichts anderes übrig. Das Dumme war nur, dass ich die Existenzbedrohung irgendwann total abgespalten hatte, ihre Verdrehungen der Wahrheit aber nicht, denn sie wiederholte ihre "Warnungen" vor diesem bösen Kerl bei jeder nur denkbaren Gelegenheit, bis weit in meine Gymnasialzeit hinein.
Eine spannende Frage wäre auch, wie es sich mit den vielen anderen Leuten im Dorf verhält, die meine Mutter andauernd madig machte. Angeblich machten bestimmte Leute alles erziehungsmäßig bei ihren Kindern falsch, waren hinterhältig und verlogen. Mir schwant, dass das etwas damit zu tun haben könnte, ob sie die Fassade meiner Eltern durchschauten. Einer der so gebranntmarkten war beispielsweise der Lehrer meiner jüngeren Schwester, der nicht nur für die SPD war (was bereits alleine schon beinahe ein Verbrechen war), sondern auch noch antiautoritär und seine Kinder angeblich damit total schädigte. Und natürlich machten meine Eltern das alles viel besser, denn sie wussten ja, wie man mit Gottes Hilfe die Kinder richtig "erzieht".
Ja sicher wusste sie das, denn sie hat mich nicht nur sexuell missbraucht, sondern mich z.B. im Kleinkindalter dadurch bestraft, dass ich lange vor dem Kreuz mit gefalteten Händen knien musste und sofort eine Ohrfeige bekam, wenn ich nicht auf das Kreuz schaute, sondern wegguckte. Wobei sie mir einredete, wie gut ich es doch habe, denn sie selbst musste bei ihrer Mutter dabei auf Erbsen knieen (was ich einmal "probehalber" aber auch musste).
Damit wären wir beim Stichwort Gehirnwäsche.
Redeverbot, Denkverbot und Zwangs-Falschdenken unter Existenzbedrohung sind miteinander verwandt.
Gehirnwäsche war nicht nur eine beliebte Methode meiner Mutter, sondern auch meines Vaters.
Ich habe im Kindergarten einmal herumerzählt, dass unser Stromzähler einmal sorum und manchmal andersrum läuft, wenn es dabei laut brummt. Ich hatte das nämlich ganz genau beobachtet. Schließlich hatte ich einen ganz tollen Papa, der sich mit Stromsachen auskannte und alle möglichen Elektrogeräte reparierte. So wie mein Papa wollte ich auch werden. Als mein Papa erfuhr, was ich im Kindergarten über den Stromzähler erzählte, wurde er extrem böse und schlug mich. Erstens einmal läuft der Stromzähler nur sorum und nie andersrum, ausserdem bin ich ja nur ein Kind, das noch gar nicht richtig beobachten kann und phantasiert.
Als dann der Mann vom Elektrizitätswerk kam und die Elektroeinrichtungen des Hauses überprüfte, erzählte ich diesem Mann auch etwas, was ich nicht hätte sagen dürfen. Als mein Vater abends von der Arbeit heimkam, berichtete erst meine Mutter, dann wurde ich ausgefragt, und dann bekam ich ganz fürchterliche Prügel. Später sagte mir mein Vater, was ich tun musste, damit er nicht ins Gefängnis musste und ich verhungern würde. Er instruierte mich sehr genau, was ich diesem Mann beim nächsten Besuch zu erzählen hatte, beispielsweise dass wir mit Kohlen und nicht mit Strom heizen, und die vielen vorhandenen Elektro-Nachtspeicheröfen nur als Reserve dienten (wobei ich nicht wusste, was "Reserve" bedeutet, mir das Wort aber gut merkte). Als ich diese Aufgabe zur Zufriedenheit meines Vaters erfüllte, bekam ich sogar eine Belohnung. Wie ich mich dabei innerlich fühlte, war aber etwas ganz anderes. Ein Teil von mir wusste genau, dass das alles nicht stimmte.
Jahre später, als ich im Studium war, schaute ich mir einmal zufällig die Elektroinstallation im Hause meines Vaters an und entdeckte, dass der Stromzähler rückwärts lief. Ich schaute zweimal hin, nein dreimal, ob ich verrückt bin oder nicht lesen kann oder was. Aber nein, ich sponn nicht, der Stromzähler lief ganz eindeutig in die andere Richtung als der Pfeil anzeigte. Ich lief sofort zu meinem Vater, dass er das sofort dem E-Werk melden muss, dass da was nicht in Ordnung ist und repariert werden muss. Nach einigem Zögern zeigte mir dann mein Vater ganz stolz, wie er es anstellte, damit der Stromzähler rückwärts lief. Ich werde die technischen Details hier nicht veröffentlichen, um keine Nachahmer zu animieren. Jedenfalls wurde mir klar, dass dieser Mann hinter seiner frommen Fassade ein Krimineller ist (wobei das heute sicher verjährt ist). Sowas erfordert schon ziemlich viel kriminelle Energie. Im Augenblick dieser Erkenntnis brach für mich ein Weltbild zusammen. Mein Riesen-Vorbild-Vater, der in der Kirche vorbetete, zweiter Vorsitzender des Kirchengemeinderates und Hansdampf in allen Gassen war und von allen für sehr integer und für honorig gehalten wurde. Ich war einfach nur fassungslos, mit welcher Leutseligkeit und Pseudo-Kumpanei mir mein eigener Vater verriet, mit welchen raffinierten Tricks er es geschafft hatte, unentdeckt zu bleiben.
Erst später fiel mir dann wieder ein, dass ich die gleiche Entdeckung schon einmal als Kindergartenkind gemacht hatte. Damals hatte mir mein Vater eine Gehirnwäsche verpasst, indem er offenkundige Tatsachen leugnete, mich prügelte und während der Prügelei zwang, ihm nachzusprechen und das Gegenteil der Wahrheit zu behaupten. Wenn er sagte, dass der Stromzähler sorum und nicht andersrum lief, dann war das die angebliche Wahrheit, und eine andere gab es nicht. Also musste ich verrückt sein, nicht er. Das vermittelte er mir nicht nur, das prügelte er in mich hinein, und jedes andere Denken wurde hart bestraft.
Das gleiche Muster wiederholte er in meinem Grundschulalter, als ich ihn eigentlich um Schutz vor dem Missbrauch durch meine Mutter bitten wollte, die angekündigt hatte, mich beim nächsten Mal ans Bett ketten zu wollen (was angeblich besonders toll sei und mir sicher viel Spaß machen werde). Als ich das aufgedeckt hatte und die Tatsache des Missbrauchs nicht mehr zu leugnen war, war nicht meine Mutter daran schuld, sondern ich. Er prügelte mich solange, bis ich "zugab", sie "verführt" zu haben. Seit kurzem kommen in der Therapie auch meine zugehörigen Gefühle ans Licht, die bisher abgespalten waren. Mir wird immer mehr bewusst, dass das noch viel härter und schlimmer war als die Geschichte mit dem Stromzähler.
Mein Therapeut meint dazu, dass ich es wohl mit Hilfe dissoziativer Verarbeitung geschafft habe, nicht vollkommen verrückt zu werden und in der Psychiatrie zu landen. Dissoziation und Abspaltung sind gnädig, denn sie erlauben das Weiterleben trotz miteinander total unvereinbarer Erfahrungen.
Jetzt habe ich das Problem, dass ich die Zusammenhänge aufdröseln muss und den durch Gehirnwäsche und Existenzbedrohung implantierten Botschaften auf die Spur kommen muss (siehe auch Programmierungen).