Intervention / Prävention von sexuellem Missbrauch und Inzest

Über Prävention ist schon viel geschrieben worden. Ich bin kein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet, aber ich werde hier ein paar unkonventionelle Ansichten und Anregungen vorbringen, die nicht zuletzt auch meinen persönlichen Erfahrungen als Missbrauchs-Opfer entwachsen sind.

Die meisten Präventions-Ansätze zielen darauf ab, die Kinder so zu stärken, dass sie gegen Missbrauchs-Täter "resistent" werden. Nach dieser Theorie suchen sich die Täter dann andere Kinder, die leichter zum Opfer gemacht werden können.

Damit haben wir auch schon den Hauptschwachpunkt dieses Ansatzes, frei nach einer gängigen Volksweisheit umformuliert:

Lieber Sankt Florian, missbrauch' nicht mein Kind, nimm andre ran.

Ich will hier nicht die persönlichkeits-stärkende Wirkung der Ansätze angreifen, die dem Kind das Nein-Sagen erleichtern sollen. Diese Ansätze sind ganz unabhängig vom Präventions-Gedanken pädagogisch sinnvoll und erstrebenswert.

Wenn es jedoch um die Verhinderung von Missbrauch geht, dann sollte man erst ein paar Fakten zur Kenntnis nehmen:

Schlussfolgerung: der o.g. Präventions-Ansatz nützt in keinem dieser Fälle auch nur annähernd etwas!

Es ist zwar schön und angenehm, das schlechte Gewissen beunruhigter Eltern (meist aus der Mittel- und Oberschicht, die ohnehin relativ viel für ihre Kinder tun) besänftigen zu können und von dieser Klientel Spendengelder für Präventionsprogramme einzusammeln; der Mehrheit der missbrauchs-gefährdeten Kinder bringt das aber so gut wie nichts!

Voraussetzungen

Nach der Theorie ist die Prävention besser als eine Intervention, nachdem es bereits zum Missbrauch gekommen ist. Deshalb wird Prävention von einigen Leuten nicht nur als etwas total anderes als Intervention betrachtet, sondern stark bevorzugt. Ich werde zeigen, dass diese Theorie nicht mit der Praxis übereinstimmt.

Ich bin der Ansicht, dass man Prävention und Intervention nicht trennen darf. Und zwar deshalb, weil in unseren gegenwärtigen Familien- und Gesellschaftsstrukturen eine zuverlässige Prävention gar nicht möglich ist!

Mit der Behauptung, dass "das Kind bereits in den Brunnen gefallen" sei, wenn der Missbrauch erst einmal begonnen habe, kann man sich aus der Verantwortung stehlen. Gerade in dieser Situation wird Hilfe aber am dringendsten gebraucht! Außerdem ignorieren viele "Präventionisten", dass die meisten Täter mit dem Missbrauch so schleichend beginnen, dass ein Kind diesen am Anfang gar nicht als solchen erkennen kann und "freiwillig" bei dem "tollen Spiel" mitmacht. Sofern es vom Alter her überhaupt bereits dazu in der Lage ist.

Täter wissen ganz genau, was sie tun müssen, damit das Kind nach dem Überschreiten der Grenze zwischen Spiel und Missbrauch nicht mehr zurück kann und in einer Abhängigkeits-Falle mit Schweigegebot gefangen wird. Diese Falle schnappt in der Regel bereits vorher zu, ohne dass dies vom Kind erkennbar ist! Auch von Erwachsenen wird dies oft nicht erkannt!

Vor dem Überschreiten dieser Grenze sind Täter auch für erwachsene Laien nicht zu erkennen, weil sie sich verdammt gut zu tarnen wissen. Die Tarn-Methoden professioneller Täter sind in der Literatur über Täter-Strategien genauer beschrieben.

Fazit: zumindest bei manchen Täter-Typen haben Kinder keine Chance!

Ohne tiefgreifendes Verständnis von Täter-Strategien entwickelte Präventions-Ansätze mögen vielleicht gut aussehen und auf den ersten Blick auch einleuchten, aber sie sind praktisch wirkungslos.

Leider ist der Täter immer im Vorteil!

Es gibt keine scharfe Grenze zwischen Prävention und Intervention. Der fließende Übergang ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Wer Präventions-Arbeit leisten will, braucht als erstes die hohen fachlichen Qualifikationen, die zu einer Intervention notwendig sind. Alles andere ordne ich der Kategorie "gut gemeint" zu.

Problem-Strukturen

Ohne detaillierte Kenntnis der Fallen und ihrer Mechanismen, in die ein Kind beim Missbrauch geraten kann, lässt es sich nicht davor schützen.

Daraus erwachsen dann verschiedene Ansätze, diese Falle zu durchbrechen oder (im nur schwer erreichbaren Idealfall) erst gar nicht entstehen zu lassen.

Ressourcen des Kindes

Es wäre angebracht, wenn die Fachwelt einen tieferen Blick auf all die Fälle würfe, in denen Kinder vergeblich versucht haben, Hilfe zu holen.

Diesen Satz schreibe ich aus eigener leidvoller Erfahrung.

Es gibt heute Kinder-Notruf-Telefone; wieviele Kinder wissen aber davon, dass es sie gibt? Gibt es sie flächendeckend? Wird in den Schulen regelmäßig darauf hingewiesen?

Was ist mit den Hemmschwellen, solche Hilfen in Anspruch zu nehmen? Gibt es fundierte wissenschaftliche Untersuchungen dazu? Sind Kinder über die Wirkungsweisen von Abhängigkeits-Mechanismen und Drohungen aufgeklärt? Wird ihnen gesagt, dass sie entgegen der Drohungen Hilfe bekommen können, ohne dass die Drohungen deswegen wahr werden?

Wird ihnen das so vermittelt, dass sie das gerade und insbesondere auch entgegen dem elterlichen Willen und entgegen der elterlichen Abhängigkeiten in Anspruch nehmen können, ohne dass sie Nachteile durch ihren Sippenverband befürchten müssen?

Oder wird ihnen im Gegenteil suggeriert, dass alles, was ihre Eltern machen oder wollen, stets in Ordnung sei?

Genau an diesem Punkt trennt sich die Spreu vom Weizen wirklich wirksamer Prävention!

Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass hauptsächlich von Eltern getragene Initiativen von ihren politischen Strukturen und Interessenlagen her gar nicht in der Lage sind, eine wirksame Prävention dieser Zielsetzung auf die Beine zu stellen. Der Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung ist auch eine Aufgabe des Staates, und zwar eine originäre Aufgabe, die aus seiner Fürsorgepflicht für die Kinder erwächst. Hier müsste aber noch einiges reformiert werden, um das wirklich wirksam umzusetzen.

Ich kenne zahlreiche Berichte anderer Missbrauchs-Opfer, dass bei ihnen das Jugendamt von alledem wusste, aber entweder nicht eingreifen konnte oder wollte. Sind diese systematischen Fehlleistungen schon einmal detailliert analysiert und evaluiert worden? Welche Qualitätssicherungs- und Supervisions-Mechanismen sind inzwischen eingeführt worden?

Wie wäre es, wenn Missbrauchs-Opfer nachträglich als Erwachsene einen Regress-Anspruch gegen das Jugendamt (z.B. Übernahme der Therapie-Kosten) geltend machen könnten, wenn es bei ihnen kläglich versagt hat? Einige entscheidungsfaule Beamte lassen sich vermutlich nur durch solche offenbar werdenden Konsequenzen zu wirklich verantwortlichem Handeln bewegen.

Die unwürdigen Begutachtungs-Prozeduren, denen sich erwachsene Missbrauchs-Opfer bei Krankenkassen und anderen Kostenträgern unterziehen müssen, sind auch eine Hürde für Jugendliche, die nicht selten noch bei Therapiebeginn Täter-Kontakt haben und von diesen weiterhin(!) sexuell ausgebeutet werden, ohne dass sie sich bisher wirksam dagegen wehren gelernt haben! Mir sind solche Fälle bekannt. Meist beginnen derartige Inzest- und Abhängigkeits-Verhältnisse schon sehr früh in der Kindheit; das Opfer wurde vom Täter regelrecht so "dressiert", dass es auch als Jugendlicher und Jung-Erwachsener kaum eine Chance gegen Drohungen und Schweigegebote hat. Dieser Bereich darf nicht vernachlässigt werden!

Noch ein wichtiger Punkt: die Angst der betroffenen Kinder. Die Fehlinformationen und Verdrehungen der Täter. Gibt es wissenschaftliche Untersuchungen, welche Strategien dagegen am besten helfen?

Inzestuöse / missbrauchende Familienstrukturen: wie intervenieren?

Über inzestuöse Systeme gibt es sehr viel Fachliteratur. Die Analyse psychodynamischer Vorgänge ist jedoch weitgehend wertlos, wenn keine Konsequenzen gezogen werden.

Zu solchen Konsequenzen ist aber gerade ein missbrauchendes System nicht in der Lage! Im Gegenteil, es wird unter Druck alles mögliche versuchen, sich auf Kosten seiner schwächsten Glieder in seiner Destruktivität wenigstens teilweise zu erhalten.

Auch diesen Satz schreibe ich aus eigener leidvoller Erfahrung.

Leider sind sehr oft auch umschließende gesellschafliche und behördliche Systeme nicht zu notwendigen Konsequenzen in der Lage, oder sie setzen die Missbrauchs-Dynamik trotz guten Willens fort.

Deshalb muss bei diesen umschließenden Systemen angesetzt werden!

In der Vergangenheit war das Versagen der umschließenden Systeme nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel! Deshalb sollte diesem Punkt endlich allerhöchste Aufmerksamkeit geschenkt werden!

Ich halte überhaupt nichts von systemischen Therapierichtungen, die versuchen, eine Inzest-Familie "reparieren" zu wollen. Was schon bei Einzeltätern in einer hohen Zahl von Fällen nachweislich nicht gelingt, dürfte bei noch komplexeren Systemen auch nicht erfolgversprechender sein. Bisher sind mir keine unabhängigen Evaluationen bekannt, die die Thesen und Behauptungen dieser Richtungen stützen würden. Zudem scheint mir einiges auf diesem Gebiet von fragwürdigen Interessen durchsetzt insbesondere wenn der Erhalt einer inzestuösen Familie als selbstverständliches Primärziel vorausgesetzt wird (oder in einigen Fällen versteckt auf dieses Ziel hingearbeitet wird) und daher im Konfliktfall das Kindeswohl untergeordnet wird. Besonders fragwürdig erscheinen mir derartige Interessen, wenn sie im Gewande von Kinderschutz propapiert werden.

Deshalb: im Zweifelsfall muss immer der (in juristischem Sinne meist mutmaßliche) Täter aus dem System entfernt werden, nicht das Opfer.

Und: im Zweifelsfall immer zugunsten des Kindes. Auch wenn nicht absolut sicher ist, dass wirklich Missbrauch vorliegt. Das Risiko muss im Zweifelsfall nach einem Worst-Case-Szenario abgewogen werden. Es kann nicht angehen, das Kind einem schweren Risiko nur deshalb auszusetzen, weil einige Lobbyisten lautstarken Medienlärm um Fälle machen, in denen absolute Gewissheit nicht zu erlangen war.

Es wäre hilfreich, wenn Fehlentscheidungen nicht nur auf dem Gebiet des Missbrauchs mit dem Missbrauch zu Konsequenzen und lautstarkem Medienecho führen würden, sondern noch viel mehr, wenn dies auch für das Gebiet unzureichender Konsequenzen bei tatsächlich erfolgtem Missbrauch und seinen nicht minder schweren Folgen für die Betroffenen gelten würde!

Wenn die unselige, offensichtlich gerade auch von Täter-Lobbyisten angeheizte Debatte zu diesem Thema endlich aufhören würde und der gesetzliche Vorrang des Kindeswohls mit allen (auch nachträglichen!) Konsequenzen tatsächlich umgesetzt würde, dann wäre für die Opfer schon sehr viel gewonnen.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, was es für die psychische und psychosexuelle Entwicklung bedeutet, wenn man nach Aufdeckung des Missbrauchs weiterhin mit dem Täter jahrelang zusammenleben und alles ertragen und abspalten muss, was mit dem Trauma im Zusammenhang steht.

Selbst wenn der sexuelle Missbrauch im juristischen Sinne aufhört (was aber keiner garantieren noch wirksam überwachen kann): der unterschwellige Missbrauch, der Missbrauch der Macht, das Halten als "Leibeigener" geht weiter, und zwar auf psychischer Ebene. In so einer Umgebung kann ein kindliches Opfer nicht heilen!

All dies wird vom Gesetzgeber nicht berücksichtigt!

Allein das Zusammenleben mit dem Täter ist bereits als solches eine viel höhere psychische Belastung und der Herd unzähliger weiterer Störungen, als die Diskutanten der unseligen Debatte über die Inzest-Familien-Reparatur bisher wahrgenommen haben!

Einige dieser Diskutanten brüsten sich sogar noch damit, dass sie angeblich mehr Ahnung von der Sache hätten als Betroffene, die das angeblich nicht objektiv beurteilen könnten (Absprechen der Kompetenz).

Warum hören maßgebliche Entscheidungsträger nicht auf die Opfer, die die Folgen dieser theoretischen Überlegungen und der Täter-Lobby-Propaganda an ihrem Leib und an ihrer Seele ausbaden müssen?

Konsequenzen / politische Forderungen: