Im Volksmund werden oft Witze über den "Chef mit seiner Sekretärin" gerissen. Für Überlebende von sexuellem Missbrauch in der Kindheit oder von Vergewaltigung als Erwachsener ist das aber alles andere als witzig. Eine ausbeuterische Beziehung am Arbeitsplatz trägt nämlich den Charakter einer Wiederholung bzw. Reviktimisierung.
Disclaimer: nicht jede sexuelle Beziehung am Arbeitsplatz muss ausbeuterischen Charakter haben. Überlebende sind jedoch nicht nur besonders anfällig, in solche Beziehungen zu geraten (Wiederholungen), sondern oft auch regelrecht blind gegenüber einem eventuellen ausbeuterischen Charakter. Deshalb lohnt es sich, sexuelle Beziehungen am Arbeitsplatz auf den Prüfstand zu stellen.
Angestellte sind von ihrem Chef existentiell abhängig. Das geht über die reine finanzielle Abhängigkeit weit hinaus: ein Chef kann auch die weiteren Berufschancen sehr stark beeinflussen, insbesondere in Form des Arbeitszeugnisses. Ein Chef hat daher eine ausgesprochene Machtposition.
Diese Machtposition ist strukturell sehr ähnlich zu einer Eltern-Kind-Beziehung. Auch ein Kind ist existentiell auf seine Eltern angewiesen. Daher wird der Beziehung zwischen Chef und Untergebenem nicht ohne Grund eine sehr hohe Aufmerksamkeit im Arbeitsrecht geschenkt.
Eine sexuelle Ausbeutung am Arbeitsplatz ist daher aus psychologischer Sicht strukturell sehr ähnlich zu einer Inzest-Beziehung. Und zwar auch dann, wenn der betroffene Arbeitnehmer glaubt (oder sich vormacht), es handele sich um eine "ganz normale Liebesbeziehung". Von einer gleichberechtigten Liebesbeziehung kann aber keine Rede sein, und zwar allein wegen der existentiellen Abhängigkeit!
Wer als Chef das weitere berufliche Schicksal seines Untergebenen beeinflussen kann, der ist prinzipbedingt nicht gleichberechtigt. Er sitzt fast überall am längeren Hebel, er besitzt Macht über seinen Angestellten.
Wer als Chef sexuelle Beziehungen mit der Angestellten-Beziehung vermischt, der begeht einen Missbrauch dieser Macht!
Und zwar unabhängig davon, ob der Angestellte scheinbar mitmacht oder vom Chef sexuell angezogen wird oder scheinbar in ihn verliebt ist. Es ist ja geradezu das Wesensmerkmal einer Inzest-Beziehung, dass Abhängigkeiten mit sexuellen Beziehungen vermischt werden.
Sexuelle Beziehungen sind von Natur aus ganz besondere Beziehungen, die über normale Sympathie hinausgehen. Gefühle wie Verliebtsein und sexuelle Anziehungskraft sind bereits von der Natur und von der Evolution mit der Existenz auf der biologischen Ebene verknüpft, und zwar um unseren Selbsterhalt als Gruppe zu gewährleisten. Derartig fundamentale Zusammenhänge kann weder der Chef noch sein Angestellter außer Kraft setzen!
Es hilft nichts: Chef-Angestellten-Beziehungen und sexuelle Beziehungen stehen in Konflikt und passen einfach von der Struktur her nicht zusammen!
Betroffene Arbeitnehmer geraten sehr oft in ausweglos erscheinende existentielle Konflikte.
Es gibt verschiedene Wege, wie so eine Situation entstehen kann. Manchmal beginnt es als scheinbar harmloser Flirt. Klar, flirten macht Spaß, aber spätestens wenn der Flirt in eine sexuelle Beziehung übergegangen ist, stellt man verwundert fest, dass irgendwas bei einer Beziehung mit dem Chef doch anders ist als wenn man jemanden in der Disco kennenlernt. Auf dem Weg des Flirtens kann man sehr leicht in eine sexuelle Beziehung am Arbeitsplatz hineinrutschen, die auch ausbeuterischen Charakter annehmen kann (aber nicht muss).
Das Problem ist nun: anders als bei der Disco kann man nicht so einfach wieder Schluss machen. Wer das als Angestellter versucht, der riskiert nicht nur seinen Job, sondern in heutigen Zeiten hoher Massenarbeitslosigkeit auch seinen gesamten sozialen Status.
Und zwar unabhängig davon, ob die Beziehung ausbeuterischen Charakter trägt oder nicht.
Diese existentielle Ausweglosigkeit ist auch der Grund, warum sich Betroffene oft selber die Schuld an der Misere geben: bevor man den Ast absägt, auf dem man sitzt, versucht man die Situation auszuhalten und die wahre Lage zu ignorieren, sich also etwas vorzumachen. Wenn das nicht geht, dann gibt man sich die Schuld auf der psychischen Ebene (Erhalt des psychischen Gleichgewichts), z.B. indem man sich vorwirft "nicht aufgepasst" zu haben oder verlogen zu sein oder etwas ähnliches (bei Überlebenden oft auch SVV).
Dabei wird jedoch eines verkannt: zum Flirten gehören immer zwei. Zum Sex ebenfalls. Es wäre Aufgabe des strukturell stärkeren, also des Chefs gewesen, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen! Auch dann, wenn die Angestellte ihn scheinbar "verführt" hat. Angestellte sind nun einmal Menschen mit menschlichen Bedürfnisse wie Zuneigung und Liebe. Es gehört zu den Dienstaufgaben eines Chefs und zu seinem Verantwortungsbereich als Führungskraft, beim Flirt eine klare Grenze zu ziehen und keine Vermischung von beruflichen und privaten Interessen zuzulassen, und zwar im Interesse seiner Firma!
Nochmals, ganz klar zum Mitmeißeln: ein Chef, der eine sexuelle Beziehung mit seinem Untergebenen eingeht, begeht eine Pflichtverletzung!
Und zwar ist es der Chef, der diese Verletzung begeht, nicht der Angestellte! Ganz egal, ob der Untergebene geflirtet oder mitgemacht hat, oder was auch immer.
Sehr oft geht jedoch die Initiative in Wirklichkeit nicht vom Angestellten, sondern vom Chef aus. Kriminell wird es spätestens dann, wenn Chefs der Unwilligkeit des Untergebenen "nachhelfen", z.B. mit offenen oder versteckten Drohungen. Das ist eine eklatante Verletzung des Persönlichkeitsrechts und des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung.
Leider gibt es nicht wenige Chefs, die ihre Dienstpflicht ganz bewusst missachten. Ich kenne einen Chef, der seine Sekretärinnen nicht nach deren Qualifikation, sondern ausschließlich nach deren Attraktivität beim Einstellungsgespräch beurteilt. So habe ich einmal zufällig mitbekommen, was er mit einer dieser auffallend attraktiven Sekretärinnen nach Feierabend getrieben hat, als er wohl glaubte, das Haus sei leer. Keine dieser Sekretärinnen hat es länger als einige Monate bei ihm ausgehalten; seine gesamte Abteilung hat eine erhöhte Personalfluktuation.
Eins ist ganz klar: bereits bei der Einstellung findet diese Vermischung von dienstlichen und privaten Interessen statt! Und zwar vorsätzlich, durch einen Chef, der die sexuelle Ausbeutung des Angestellten bewusst plant und sich extra solche Kandidaten aussucht, die seinen sexuellen Avancen wenig Widerstand entgegensetzen können.
Derartige bewusste Ausbeuter suchen sich ähnlich wie Kindesmissbrauchs-Täter mit ihrem siebten Sinn absichtlich ein schwaches Opfer, das nicht selten leider auch eine Opfer-Karriere als Überlebender hinter sich hat.
Aber auch weniger zielgerichtet agierende Pflichtverletzer haben nicht selten erstaunliche Fähigkeiten zum Verdrehen der Tatsache, dass sie in Wahrheit die Verantwortung aufgrund ihrer Rolle als Chef tragen. Sie suggerieren dem Angestellten, er selber wolle es doch oder er sei verliebt oder er habe ihn verführt (Darstellung als Opfer der Verführung u.ä.), und sie spielen auf der Klaviatur der natürlichen biologischen Reaktionen des Angestellten.
Überlebende haben Vorerfahrungen, die sie besonders anfällig für Wiederholungen machen. Eine Wiederholung kann mehrere negative Folgen haben:
Jeder Angestellter hat ein scharfes Schwert, mit dem er sich wehren kann: die Kündigung.
Das Hauptproblem bei vielen Betroffenen ist, dass sie sich nicht trauen, von dieser Waffe Gebrauch zu machen.
Es ist aber gar nicht so schwer, diese Waffe zu schwingen, weil es naturgemäß zum Angestellten-Dasein gehört, dass man gelegentlich wechselt und deswegen kündigt. Kündigungen gehören einfach zu den üblichen Ritualen im Berufsleben.
Falls man in den Ausbeuter (wenigstens teilweise) verliebt ist oder seiner sexuellen Anziehungskraft schlecht widerstehen kann, dann hilft es, wenn man sich klar macht, dass es keine normale Beziehung ist und nie mehr eine werden kann (denn wenn so eine Missachtung der Persönlichkeit erst einmal stattgefunden hat, lässt sich das kaum noch reparieren). Hierzu steht auch einiges im Artikel über destruktive Beziehungen und wie man sich daraus lösen kann.
Wie für alle Kündigungen gilt auch hier, dass man sich möglichst erst eine neue Stelle suchen sollte, bevor man die alte kündigt. Dazu muss man sich lediglich aufraffen. In schweren Fällen würde ich aber auch raten, notfalls lieber den sozialen Abstieg in Kauf zu nehmen als sich schweren gesundheitlichen Risiken (z.B. Aids) auszusetzen.
Die Suche nach einer neuen Stelle während der Fortdauer des alten Arbeitsverhältnisses hat noch einen weiteren Vorteil: man braucht dem neuen Arbeitgeber noch kein Arbeitszeugnis des sexuell ausbeutenden Chefs vorzulegen, weil der neue Chef Verständnis für den Wechsel-Wunsch haben wird.
Hat man diesen Schritt erst einmal geschafft, muss man lediglich dafür sorgen, dass der alte Chef keine Verknüpfung des Wechsels mit seiner sexuellen Ausbeutung herstellt. Hier empfehle ich, notfalls zu lügen, dass sich die Balken biegen. Für einen Wechsel kann es ja 1000 nachvollziehbare Gründe geben; daraus findet sich mit Sicherheit etwas, was ihm einleuchtet. Eine weitere Möglichkeit besteht auch darin, innerlich die Faust in der Tasche zu machen während man äußerlich den alten Chef bezirzt und beflirtet, dass er einem ein gutes Zeugnis ausstellt. Sobald er das getan hat, braucht man ja nicht mehr weiter mit ihm zu flirten ;-)
Wer einen in existentielle Nöte bringt und einen sexuell ausbeutet, dem gegenüber hat man keine Verpflichtung zur Loyalität und zur Ehrlichkeit. Meist sind ausbeuterische Beziehungen ohnehin nicht von echtem Vertrauen und Ehrlichkeit geprägt.
Weiterhin empfiehlt es sich, auch nach dem Erhalt des Zeugnisses keinen Eklat zu verursachen, es sei denn, man ist sich sicher, dass man den Kampf mit dem Ex-Chef gewinnen wird (z.B. wenn mehrere ebenfalls Betroffene sich zusammentun oder wenn in Großbetrieben extra Sonderstellen für solche Fälle vorhanden sind, an die man sich wenden kann). Ansonsten besteht in vielen Branchen und Nischen die Gefahr, dass sich solche Vorgänge zwischen (potentiellen zukünftigen) Arbeitgebern herumsprechen.
Unter Umständen ist es für den Betroffenen schwierig, mit dieser Situation leben zu müssen, in der man seiner Wut und seiner Enttäuschung nicht gegebenüber dem Verursacher Luft machen kann, einfach um sich selber zu schützen. Hier können jedoch therapeutische Techniken der Abreaktion und der Übertragung auf Gegenstände helfen. Die sprichwörtliche "Faust in der Tasche" ist ja letztlich auch nichts anderes.
Bei Überlebenden empfiehlt es sich sowieso, Therapie zu machen, in deren Rahmen dann auch diese Dinge aufgearbeitet und verarbeitet werden können.