Wie verarbeiten Opfer ihren sexuellen Missbrauch?

Jeder verarbeitet ihn anders. Manchmal sogar auf extrem verschiedene Weise. Wobei es eine Gemeinsamkeit gibt: die Extremheit der Verarbeitung.

Wobei viele Opfer nur auf einigen Gebieten extrem reagieren.

Beispiele:

Die Sexualität von Opfern ist oftmals gestört, was sich aber auf total gegensätzliche Weise äußern kann: die einen haben ständig wechselnde Partner und sind manchmal regelrecht Sex-besessen (promisk / Promiskuität), andere leben dagegen wie Mönche oder Nonnen.

Das Selbstwertgefühl ist oft gestört: manche ziehen sich total von sozialen Kontakten zurück, andere werden zu "Partylöwen" und überspielen ihre Minderwertigkeits-Gefühle.

Manche werden Schul-Versager, andere dagegen Doktoren.

Manche beschädigen ihren Körper (z.B. "Ritzen") oder machen Selbstmord-Versuche, andere passen dagegen höllisch auf, um ja nicht in irgendeiner Weise aufzufallen.

Missbrauchs-Opfer sind oftmals besonders anfällig für Fremd-Ausbeutungen aller Art, z.B. durch ihre Chefs, durch ihre Partner, durch Sekten ganz verschiedener (scheinbar gegensätzlicher) Art. Oder sie sind übervorsichtig und wittern überall Gefahr.

Selbst-Ausbeutung: manche werden von verschiedenen Süchten wie Alkohol und Drogen abhängig, andere sind dagegen "militante" Abstinenzler.

Manche werden straffällig und landen im Knast, andere können vor lauter Gewissensbissen und innerer Angst nicht mal versehentlich schwarzfahren, ohne anschließend die Fahrkarte nachzukaufen.

Manche werden selber zu Tätern. Andere bleiben lebenslang Dauer-Opfer mit oftmaligen Wiederholungen.

Abwehr: fast alle kindlichen Opfer von Missbrauch leugnen oder "vergessen" / dissoziieren ihn zumindest zeitweise. Ich habe unzählige Beispiele von Leuten erlebt, die typische Folgesymptome von Missbrauch und Misshandlung schildern, aber steif und fest behaupten, eine derartige Problematik könne bei ihnen überhaupt nicht vorliegen. Dabei haben sie (wie fast jedermann) große Amnesie-Lücken bezüglich ihrer Kindheit und begehen den logischen Denkfehler, dass man bei Vorhandensein von Gedächtnis-Lücken so etwas niemals nicht Sicherheit ausschließen kann!

Disclaimer: extreme Reaktionen sind zwar häufig beobachtet worden und werden von einigen Fachleuten als charakteristisch angesehen, sind aber keine zwangsläufigen Folgen. In letzter Zeit interessieren sich Fachleute zunehmend für diejenigen Überlebenden, die es trotz schwerster Traumatisierungen geschafft haben, ein scheinbar "normales" Leben zu führen. Bis vor kurzem gehörte ich scheinbar auch zu dieser Gruppe. Was dabei übersehen wird: wie es in einem Menschen ganz tief innen drin wirklich aussieht, das weiß ein schwer Traumatisierter manchmal selber nicht. Denn er tut unbewusst alles, um es vor sich und anderen zu verbergen.

Gegen-Disclaimer: wer (sexuell) traumatisiert worden ist und bisher keine Folge-Symptome beobachtet hat, der kann sich nicht darauf verlassen, dass es immer so bleiben wird. Wie Trauma-Forscher schon lange wissen (aber anscheinend immer noch nicht allgemein bekannt ist), gibt es nach dem Abklingen einer vergleichsweise kurzen Phase der akuten Trauma-Reaktionen eine viel längere sogenannte Latenz-Phase. In dieser sind nur sehr geringe, manchmal auch gar keine Reaktionen beobachtbar. Die dritte Phase mit heftigen Trauma-Spätfolgen kann u.U. nicht nur Jahre, sondern auch Jahrzehnte später immer noch ausbrechen! Deshalb sind die Ergebnisse von Querschnitts-Studien, bei denen Traumatisierte einer bestimmten Altergruppe untersucht werden, mit Vorsicht zu bewerten! Deren Ergebnisse dürften eher Untergrenzen für das Ausmaß von Trauma-Folgen darstellen, die nur selten etwas über das tatsächliche Gesamt-Ausmaß der Folgen aussagen. Leider gibt es nur sehr wenige Längsschnitt-Studien, die sich über mehr als eine Generation Zeitdauer erstrecken. Diejenigen Studien, die sich mit den Langfrist-Folgen von nachgewiesenermaßen traumatisierten Menschen (Pearl-Harbor-Veteranen, Vietnam-Veteranen, KZ-Opfer, ...) beschäftigen, ergeben niederschmetternde Resultate.

Ausmaß von sexuellem Missbrauch

Es gibt viele sogenannte Dunkelfeld-Untersuchungen (nicht zu verwechseln mit Dunkelfeld-Schätzungen!), die das Ausmaß von sexuellem Missbrauch in unserer Gesellschaft aufzeigen. Die ernstzunehmenden Untersuchungen basieren auf der Befragung von ca. 1000 oder mehr zufällig ausgewählten Personen, die entweder anonym Fragebögen ausfüllten oder an einem anonymen strukturierten Interview teilnahmen. Die Ergebnisse der wissenschaftlich relativ gut abgesicherten Untersuchungen zeigen Missbrauchs-Raten im Bereich zwischen 10% und 30% aller Mädchen und 5% bis 15% aller Jungen bis zum Jugendalter. Die Schwankungen stammen zum Großteil aus unterschiedlichen Definitionen, was als Missbrauch betrachtet wird. Selbst wenn man annimmt, dass nur ein Teil der Opfer schwere traumatische Schäden erfahren hat, bedeutet dies, dass sexueller Missbrauch eine der häufigsten "Krankheits"- bzw. Störungsursachen von Kindern in unserer Gesellschaft sein dürfte. In jeder Schulklasse sind rein statistisch mehrere missbrauchte Kinder!

Etwa 70% aller weiblichen Insaßen geschlossener Psychiatrien sind laut einigen Untersuchungen bereits als Kind sexuell missbraucht worden. Unter Prostituierten wurden ähnlich hohe Prozentzahlen ermittelt.

Mich würde brennend interessieren, ob die Zahlen bei Mönchen und Nonnen von streng abgeschirmten Klöstern ähnlich hoch sind. Bisher habe ich aber keine Untersuchungen zu diesem Thema gefunden.

Sind die ermittelten Zahlen über das Ausmaß unter Kindern realistisch? Es ist ein Streit darüber entbrannt, einmal unter Fachleuten, aber auch unter Lobbyisten verschiedener Richtungen. Manche dieser Lobbyisten zitieren auch heute noch alte Studien oder Kriminalstatistiken, deren Relevanz aus verschiedenen Gründen angezweifelt werden kann (z.B. wird bekanntermaßen nur ein verschwindend geringer Bruchteil aller Täter angezeigt). Andere benutzen auch heute noch unsichere Schätzungen und tun so, als ob sie verlässliche Zahlen liefern könnten. Einige von denen, die die Ergebnisse der inzwischen sehr zahlreichen wissenschaftlich bestmöglich abgesicherten Dunkelfeld-Studien nicht mehr ignorieren können, behaupten steif und fest, die ermittelten Zahlen könnten nicht stimmen, es müsse sich im besten Fall um Täuschungen, im Extremfall um Massen-Wahn handeln. Die Antworten würden durch die Art der Fragestellungen bereits vorgebahnt. Tatsächlich ist bekannt, dass die Formulierung der Fragestellungen einen Einfluss auf das Ergebnis hat. Aber in welcher Richtung?

Mir ist aufgefallen, dass in dieser Diskussion ein Argument bisher kaum vorgebracht wurde: wer garantiert, dass die ermittelten Zahlen nicht in Wirklichkeit zu niedrig sind, da nach Erkenntnissen von Trauma-Forschern wie van der Kolk u.a. die meisten Opfer ihre traumatischen Missbrauchs-Erlebnisse wenigstens zeitweise verdrängen oder dissoziieren (im Volksmund auch "vergessen" genannt)? Wenn ich vor 10 Jahren an einer Dunkelfeld-Untersuchung teilgenommen hätte, wäre ich mit Sicherheit in die Rubrik "nicht missbraucht" eingeordnet worden, einfach weil meine innere Abwehr so stark war und ich auch vor mir selber weder etwas zugeben konnte noch teilweise etwas wegen meiner Abspaltungen bzw. Dissoziation tatsächlich wusste! Ich hätte mich selber guten Gewissens in die Rubrik der Nicht-Missbrauchten eingeordnet!

Die Dunkelfeld-Untersuchungen zeigen nicht, wieviele Menschen tatsächlich missbraucht worden sind, sondern nur, wieviele davon zum Untersuchungs-Zeitpunkt wissen!

Aus Untersuchungen an Pearl-Harbor-Veteranen ist bekannt, dass ein nicht unerheblicher Anteil von PTBS-Symptomträgern leugnete, jemals in Pearl Harbor gewesen zu sein, obwohl ihre Akten das Gegenteil bewiesen! Teilweise traten diese Leugnungen sogar verspätet auf, nachdem sie es bereits einmal zugegeben hatten!

Wenn wir die ermittelten Zahlen der Dunkelfeld-Untersuchungen als Basis derjenigen Leute nehmen, die von ihrem Missbrauch wissen und nicht leugnen, dann frage ich mich, wieviele davon sich wohl in Trauma-Behandlung begeben. Das kann nur ein winziger Bruchteil sein! Sonst würden sämtliche Kliniken und psychologischen Behandlungsstellen unabhängig von ihrer fachlichen Ausrichtung zusammengenommen nicht ausreichen, um alle Missbrauchs-Opfer zu behandeln!

Selbst von den Opfern, die es wissen könnten und die etwas gegen die weitreichenden Folgen bei ihnen tun könnten, unternimmt nur ein Teil etwas dagegen!

Besonders deutlich ist dies bei männlichen Opfern zu sehen: nach den Dunkelfeld-Untersuchungen scheint der Männer-Anteil unter allen Überlebenden so um die 30% zu liegen (wobei auch das zu niedrig ermittelt sein könnte). Wie hoch ist der Männer-Anteil in Internet-Foren für Überlebende? Praktisch vernachlässigbar!

Verdrängen, wegsehen, ignorieren, nicht bemerken, nicht behandeln usw. sind immer noch die Standard-Umgangsformen mit sexuellem Missbrauch! Eine der tiefsten und stärksten Schädigungen, die ein Mensch erfahren kann!

Die Folgen für die Gesellschaft

Sexueller Missbrauch ist nach den Ergebnissen der Dunkelfeld-Untersuchungen so weit verbreitet, dass er volkswirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe anrichten muss: allein im Gesundheitswesen müssen es pro Jahr mehrstellige Millionenbeträge sein, die vor allem durch erfolglose Arztbesuche und Klinikaufenthalte verpulvert werden. Große Teile der im Psychiatrie-Bereich anfallenden Kosten gehen auf Spätfolgen von sexuellem Missbrauch zurück, wie man aus den Dunkelfeld-Untersuchungen schließen kann (etwa 70% Missbrauchs-Opfer unter weiblichen Insaßen geschlossener Psychiatrien). Wer Missbrauchs-Erlebnisse und andere Traumatisierungen verdrängt oder abgespalten hat, läuft leicht in die falsche Richtung bei den Diagnosen und Erklärungsansätzen. Typische Fehldiagnosen sind Borderline und Schizophrenie, die oft anstelle des verdrängten Missbrauches vergeben und dann falsch behandelt werden; auch Neurodermitis und andere Konversionsstörungen sind typische Symptome verdrängter und dissoziierter Traumatisierungen. Mit Sicherheit wird sexueller Missbrauch wesentlich seltener als Ursache diagnostiziert als er tatsächlich die Ursache darstellt!

Keiner kann ermessen, wieviele Arbeitsstunden durch Krankheit und Depressionen verloren gehen, deren Ursache nicht erkannt wird.

Keiner weiß, wie hoch der Anteil von Überlebenden unter Dauer-Arbeitslosen, unter Sozialhilfe-Empfägern und Frührentnern ist. Mir kommt es so vor, als ob der Anteil dieser Gruppen in Internet-Foren für Überlebende höher als in der Durchschnittsbevölkerung liegen könnte. Genauere Untersuchungen zu diesen Themen könnten sehr lohnende Erkenntnisse liefern.

Die eigentlichen Schäden sind immaterieller Art: entgangene Lebensfreude, zerstörte Beziehungen, Weitergabe von Traumatisierungen an die nächste Generation. Eine Gesellschaft, die darüber schweigt und ES tabuisiert oder gar noch Opfer mit sozialer Missachtung bestraft, ist für mich keine erstrebenswerte Gesellschaft.

Weitere Fakten

Hier ist ein weiterer Artikel (zur Schädlichkeit von sexuellem Missbrauch), in dem verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen angeführt werden.

Literatur

Bange/Deegener: Sexueller Missbrauch an Kindern. Ausmaß, Hintergründe, Folgen. Beltz PVU Verlag 1996.

Alice Miller: Du sollst nicht merken. Suhrkamp Taschenbuch, 1998.

Bessel A. van der Kolk, Alexander C. McFarlane, Lars Weisaeth (Hrsg.): Traumatic Stress - Grundlagen und Behandlungsansätze. Theorie, Praxis und Forschung zu posttraumatischem Streß sowie Traumatherapie. Junfermann Verlag 2000.