Inzest-Opfer haben oft ein grundlegendes Problem: die Beziehung zu ihren Eltern (auch zum Nicht- oder Co-Täter) ist unrealistisch verschoben und verzerrt. Ausgerechnet Inzest-Opfer, die doch schlimmstes durchgemacht haben, glauben ganz besonders fest, sie hätten prima Eltern, dabei stimmt es nicht.
Wie ist das zu verstehen? Außenstehende können das nur schwer nachvollziehen. Betroffene merken oft selber nicht, dass genau sie davon betroffen sind. Deswegen erkläre ich es am eigenen Beispiel.
Als Kind war ich von meinen Eltern abhängig, und zwar existentiell abhängig. Wie jedes Kind habe ich sie idealisiert: "du bist die beste Mama der Welt" glaubte ich wie andere Kinder auch. Ich kannte gar keine andere Mama als diese eine. Eine andere war ja auch nicht meine Mama.
Was wäre geschehen, wenn ich diese Idealisierung meiner Mutter nicht gehabt hätte? Ich hätte in dieser Inzest-Familie nicht weiter leben können, das wäre nicht auszuhalten gewesen. Kein Erwachsener würde sich selber so etwas freiwillig zumuten! Als Kind musste ich aber dort leben, ob ich wollte oder nicht. Also blieb mir nichts anderes übrig, als meine Mutter besonders stark zu idealisieren.
Zu diesem Idealbild gehörte auch das totale Ausblenden ihres Täter-Verhaltens: ich hätte sie zeitweise gegen jeden verteidigt, der es gewagt hätte, die Realität beim Namen zu nennen (siehe auch Identifikation mit dem Angreifer). Ich glaubte auch, sie schützen zu müssen. Das war aber nicht nur Freudsche Abwehr, sondern hatte ganz sicher auch etwas mit Dissoziation zu tun: ich wusste im Normalzustand teilweise gar nicht, was sie mit mir machte, wenn ich in andere Überlebens-Modi umschaltete. Und das wenige an Erinnerungen und Gefühlen musste ich vor mir selber verdrehen und zurechtbiegen ("war ja alles nicht so schlimm"), ja sogar die "Schuld" auf mich nehmen, damit ich in dieser Umgebung funktionierte und nicht dekompensierte.
Ergebnis: ich habe meine Mutter als Kind "geliebt", obwohl sie mir Dinge angetan hat, für die sie jahrelang hinter Gitter gehört hätte. Ich war eben ein Kind und sah alles mit kindlichen Augen, nicht mit denjenigen des heutigen Erwachsenen.
Diese verschobenen Eltern-Beziehungen kommen auch in verschobenen und nicht zueinander passen Gefühlen zu meinen Eltern heraus: einerseits idealisierte "Liebe", andererseits verdrängter und abgespaltener Hass. Den Hass habe ich aber erst nach langer Therapie zum ersten Mal spüren und zulassen können! Trotzdem muss er auch schon vorher dagewesen sein. Denn was beide Eltern mit mir gemacht haben, das muss zu heftigen Angst- und Hassgefühlen führen. Das liegt in der Natur der biologischen Grundmechanismen, und da hilft alle christliche Tünche nichts.
Den Hass hatte ich gegen mich selber gerichtet und ins Unbewusste verdrängt. Meine psychosomatische Hauterkrankung (unerklärliche Entzündung ähnlich einer Neurodermitis, aber im Intimbereich) muss etwas damit zu tun haben.
Als ich als Erwachsener in die Aufdeckungs-Krise kam, war es mir am Anfang unmöglich, meine eigenen wahren Gefühle zu spüren und von den eingeimpften Täter-Programmierungen zu trennen. Meine kindliche Spaltung der Mutter in eine "gute" und in eine "missbrauchende" Mutter funktionierte so gut, dass ich die andere Seite nicht wahrnahm, ja gar nicht wahrnehmen konnte, weil ich mich an die andere Mutter nur ganz schemenhaft erinnerte und den Rest vollkommen umdeutete.
Die Umdeutungen sind gerade am Anfang des Therapie-Prozesses ein schwieriges Problem, das man selber ohne fremde Hilfe und Anstöße kaum lösen kann, weil sie sich selber verstärken.
Heute weiß ich nicht nur mit dem Verstand, sondern spüre es auch in meinen Gefühlen, dass sie eben nicht nur lieb zu mir war. Gewiss war sie wie jede andere Mutter darum bemüht, eine gute und liebevolle Mutter zu sein. Zeit- und phasenweise war sie das ja auch. Nur: sie war auch ganz anders. Sie hat mich auf eine Weise gequält, die unbeschreiblich ist. Sie war eben gleichzeitig auch eine Bestie.
Es war für mich unendlich schwierig, diesen Widerspruch gefühlsmäßig zu begreifen und zur inneren Ruhe damit zu kommen. Dieser Widerspruch hat mich beinahe zerrissen. Ich glaube, der Erfolg meiner Therapie beruht auch darauf, dass dieses Widerspruchs-Thema nun für mich innerlich abgehakt ist. Ich habe akzeptiert, dass sie gleichzeitig liebevolle Mutter und gleichzeitig eine Bestie war.
Susan Forward: Vergiftete Kindheit. Elterliche Macht und ihre Folgen. Goldmann Taschenbuch 1993.
Mathias Hirsch: Realer Inzest. Psychodynamik des sexuellen Mißbrauchs in der Familie. Psychosozial-Verlag 1999.