Soll man den Täter anzeigen?

Diese Frage berührt ein für viele Überlebende von sexuellem Missbrauch schwieriges und belastendes Thema. Da es kein Patentrezept zur Beantwortung gibt, versuche ich hier, einige wesentliche Gesichtspunkte in die Diskussion zu bringen.

Seitenthema: viele stellen die Frage, ob man den Täter überhaupt noch juristisch zur Rechenschaft ziehen kann. Dies hägt von vielen Faktoren ab; hier sind nur ein paar grobe Anhaltspunkte (genaueres kann nur eine Rechtsberatung klären): nach neuer Rechtslage (die jedoch nur zur Anwendung kommen kann, wenn das Verbrechen nach alter Rechtslage im Jahre 1994 noch nicht verjährt war), kann man schweren sexuellen Missbrauch (der mit Eindringen in den Körper oder ähnlich schweren Gewalthandlungen verbunden ist) bis zu 20 Jahre nach Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers verfolgen, also bis zum Alter von 38. Beim "einfachen" sexuellen Missbrauch sind es nur 10 Jahre, also bis zum Alter von 28.

Damit genug der Juristerei. Mir geht es in diesem Artikel um die menschliche Ebene.

Fast jeder Überlebende, der die Tat verfolgen lassen könnte, steckt in einer schwierigen inneren Ambivalenz. Die eine innere Seite möchte den Täter zur Rechenschaft ziehen, möchte das erlittene Unrecht "gesühnt" wissen. Der andere Teil hat Angst vor der erneuten Konfrontation mit traumatischen Erlebnissen, vor der zwangsläufig entstehenden Täter-Konfrontation, vor den Mühlen der Justiz, vor dem zumeist angeordneten Glaubwürdigkeits-Gutachten, und vor sich selber, ob man das alles wird durchhalten können.

Dieser Ambivalenz kann man nur gerecht werden, wenn man alle daran beteiligten Gefühle und Einstellungen akzeptiert und für sich zulässt, auch wenn sie sich gegenseitig widersprechen. Schließlich war der Missbrauch meistens ja auch sehr stark von Ambivalenzen geprägt; daher ist das Auftreten von Ambivalenzen bei diesem Thema auch kein Wunder.

Vorteile einer juristischen Aufarbeitung

Wenn der Täter rechtskräftig verurteilt wird, kann dies durchaus einen Beitrag zur Heilung des Opfers leisten: die ursprünglichen Machtverhältnisse zwischen Täter und Opfer werden herumgedreht; was vorher "verrückt" war, wird (im Idealfall) durch die juristische Aufarbeitung "geradegerückt".

Unter Therapeuten herrscht jedoch Konsens, dass dieser Effekt des "Geraderückens" auch durch andere Mittel erreicht werden kann.

Falls der Täter nicht rechtskräftig verurteilt wird oder (wie in vielen Fällen) lediglich mit Bewährung oder einer Geldstrafe davonkommt: auch dann kann es für das Opfer noch positive Effekte geben, z.B. wenn man beobachten konnte, wie der Täter ins Schwitzen gekommen ist. Eine Garantie dafür gibt es jedoch nicht; insbesondere kaltblütige Profi-Täter lassen sich meist kaum etwas anmerken.

Erfolgsaussichten einer Anzeige

Diese sind in dem meisten Fällen (bis auf Ausnahmen) -- deutlich schlechter als die meisten Leute naiverweise annehmen!

Warum?

Entscheidend für den Erfolg bei Gericht ist nicht das, was tatsächlich geschehen ist, sondern was sich nach den Kriterien der Strafprozessordnung darüber nachweisen lässt.

Das Verbrechen des sexuellen Missbrauchs findet fast immer heimlich statt. Zeugen sind nur selten dabei, oder kommen wegen Mittäterschaft oder unterlassener Hilfeleistung nicht als unabhängige Informationsquelle in Frage.

Sexueller Missbrauch wird nicht ohne Grund als "das heimlichste aller Verbrechen" bezeichnet.

Der Staat setzt also in seinen Gesetzen eine Strafe auf etwas aus, das sich in der Praxis nur ganz selten überhaupt nachweisen lässt. Je schwieriger die Beweislage, desto mehr kommen andere Faktoren vor Gericht ins Spiel: beispielsweise welche Interessen die am Prozess Beteiligten verfolgen, welche Gutachter hinzugezogen werden, welche Meinung diese vertreten und wer sie bezahlt.

Was viele Opfer ebenfalls nicht wissen: der Staat hat eine vollkommen andere Motivation bei der Verfolgung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung als ein Betroffener. Der Staat möchte keine "Sühne" oder "Wiedergutmachung", sondern lediglich dafür sorgen, dass die öffentliche Ordnung von seinen Bürgern so einigermaßen eingehalten wird. Dazu genügt es ihm, wenn die offensichtlichen und klaren Fälle mit Sanktionen belegt werden - alle anderen Fälle, bei denen auch nur die geringste Chance besteht, dass der Angeklagte vielleicht zu Unrecht verurteilt werden könnte, lässt er lieber ungesühnt.

Dies genügt dem Staat, für ihn kommt es nur auf den Anschein an. Ein Verbrechen, das sich nicht nachweisen lässt, kann ihm auch keinen Ärger mit der öffentlichen Meinung oder öffentlichen Ordnung einhandeln - niemand kann behaupten, der Staat verletze seine Pflichten. Stellenweise verhält sich der Staat sogar so, als ob das nicht existiere, was sich nicht nachweisen lässt.

Für diese Vorgehensweise gibt es einen alten lateinischen Spruch: in dubio pro reo (im Zweifel stets für den Angeklagten).

Der Zweifel sieht in der Gerichts-Praxis meist so aus, dass der Verteidiger irgendetwas erfindet, was die Glaubwürdigkeit irgendeiner Aussage des Opfers für Unbedarfte in irgendeiner Weise in Frage stellt. Daraus wird dann schnellstens die Glaubwürdigkeit des Opfers als Ganzes in Frage gestellt. Wenn Überlebende beispielsweise von typischen Depersonalisierungs-Erscheinungen wie das Verlassen ihres Körpers berichten, kann es leicht passieren, dass ihm Halluzinationen oder eine Psychose / Wahnvorstellungen unterstellt werden, die seine komplette Glaubwürdigkeit in Frage stellen. Auch andere typische Folgen des Missbrauch, wie psychische Instabilität oder Selbstmordversuche, werden von Verteidigern gerne als Anzeichen für die angebliche "Unzuverlässigkeit" von Zeugenaussagen herumgedreht. Und das schlimme ist: viele Richter folgen diesen "Argumenten" auch noch, wie man in diversen Urteilen nachlesen kann!

Im Klartext: theoretisch können Täter bis zum 28. Lebensjahr des Opfers belangt werden, praktisch findet das jedoch sehr selten statt, da es nur selten andere Zeugen als das Opfer gibt und das Opfer fast immer mit einigen der folgenden Methoden als unglaubwürdig dargestellt werden kann:

Die offiziellen Richtlinien / Kriterien zur Glaubwürdigkeitsbegutachtung stellen typische Täter-Verdrehungen als "Tatsachen" dar.

Fazit: in dem Moment, in dem das Gericht einen Glaubwürdigkeits-Gutachter bestellt, hat man praktisch bereits verloren. Das Gebiet der Gutachter ist in der Praxis weit überwiegend von Täter-Lobbyisten besetzt, die ihre Pfründe mit allen fairen und unfairen Mitteln verteidigen, oft auch hochrangige akademische Titel führen. Wer es nicht glaubt, findet Beispiele im Buch von Ursula Enders oder per Internet-Recherche.

Ausnahmen, bei denen die Aussichten vor Gericht etwas besser stehen: es gibt mehrere Zeugen, deren Aussagen jedoch übereinstimmen müssen (wehedem irgendwelche Rand-Details desselben Vorgangs werden unterschiedlich geschildert), oder es gibt "harte Beweise" wie z.B. gedrehte Porno-Videos, auf denen der Täter klar erkennbar ist - was jedoch nur selten der Fall ist, weil sich Profi-Täter vor ihrer Erkennung zu schützen wissen (z.B. durch Aufsetzen schwarzer Mützen oder Kapuzen).

Fazit: in der Praxis sind die Aussichten, einen Täter nur aufgrund der Zeugenaussage eines einzelnen erwachsenen Opfers hinter Gitter zu bringen, verschwindend gering.

Dies deckt sich mit meinen Beobachtungen in Internet-Foren, in denen erwachsene Überlebende von ihren Versuchen berichten, dem Täter aus eigenen Kräften über den Rechtsweg beizukommen: fast alle mir bekannten Fälle haben damit Schiffbruch erlitten.

Achtung Falle! in letzter Zeit treten wieder gehäuft Betroffene im Internet auf, deren Naivität mir schier unglaublich vorkommt, wenn sie andere Betroffene ohne Kenntnis deren Hintergründe und Beweislage dazu animieren, direkt ins Messer zu laufen!

Bevor die menschenrechtsverletzenden Glaubwürdigkeits-Gutachten nicht abgeschafft sind (s.u.), bringen Kampagnen zur Abschaffung der Verjährungs-Fristen rein gar nichts.

Psychischer Hintergrund einer Anzeige / eines Gerichtsverfahrens

Ich beobachte immer wieder Opfer, die meinen, durch eine Anzeige könne man seine (psychischen) Probleme aus der Welt schaffen.

Einen schlimmeren Irrtum kann es nicht geben. Ein Gerichtsverfahren macht überhaupt nichts heil, selbst wenn der Täter verurteilt wird. Das Opfer bleibt weiter geschädigt!

Merksatz: eine Anzeige / ein Gerichtsverfahren ist kein Ersatz für eine Therapie!

Häufige Fallstricke und Ratschläge hiergegen

Um es kurz zu machen: ohne Unterstützung durch ein stabiles soziales Netz kann eine Anzeige des Täters den gleichen Effekt wie eine schwere Retraumatisierung haben.

Das heißt also konkret:

Folgerungen für die Politik

Die aktuelle Praxis der Glaubwürdigkeitsgutachten ist für die Opfer eine einzige Katastrophe. Allein durch die Existenz dieser Praxis wird ihnen von vornherein per Default unterstellt, dass es Gründe geben müsse, an ihrer Glaubwürdigkeit zu zweifeln.

Dies ist extrem unfair: ein Täter muss sich nicht zwangsweise einem "Lügen-Gutachten" unterziehen, in dem geprüft wird, ob er leugnet.

Wenn schon Lügendetektoren gegen die Menschenrechte verstoßen (siehe BGH-Urteil von 1954), dann Glaubwürdigkeitsgutachten ebenfalls!

Glaubwürdigkeitsgutachten sind sogar schlimmer als Lügendetektor-Tests (die nur simple Ja/Nein-Entscheidungen liefern), denn Glaubwürdigkeitsgutachten führen in der Praxis zu einer Herabwürdigung des Opfers. Artikel 1 des Grundgesetzes: die Würde des Menschen ist unantastbar. Der Staat greift die Würde von (mutmaßlichen) Opfern jedoch mit Hilfe von Glaubwürdigkeitsgutachten an, ein Verfassungs-Verstoß!

Nochmals: Glaubwürdigkeitsgutachten sind ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte, der vom Staat und von den Gerichten begangen wird!

Unser Strafrecht bevorzugt trotz aller zwischenzeitlichen Verbesserungen (z.B. Zeugenschutz) immer noch die Täter und gibt ihnen mehr Rechte als den Opfern. Unser Staat macht die Opfer fertig, und zwar aktiv! Wer dies ändern will, sollte folgendes wissen und berücksichtigen.

Die erwachsenen Opfer zerfallen grob in zwei Gruppen:

  1. Diejenigen, die sich nicht trauen und nicht können. Ihnen wird von manchen gesellschaftlichen Kräften sogar unterschwellig vorgeworfen, dass sie durch ihr Schweigen die Täter schützen. Die meisten Opfer schweigen jedoch nicht nur, weil sie nach wie vor den Täter fürchten und durch den Missbrauch so geschädigt sind und deshalb nicht können, sondern auch, weil die Gesellschaft ihnen nicht wirklich hilft - sie können die hohen Anforderungen, die ein erfolgreicher Prozess an sie stellt, schlicht nicht erfüllen. Solange die menschenverachtende Praxis der Glaubwürdigkeitsgutachten nicht abgeschafft ist, kann sich dies nicht ändern.
  2. Diejenigen, die unbedacht agieren und damit in Fallen stolpern und insbesondere beim Glaubwürdigkeitsgutachten direkt ins Messer laufen. Typischerweise werden Anzeigen erstattet, die von vornherein juristisch oder zumindest in der Praxis von vornherein aussichtslos waren. Das Ergebnis ist nicht selten, dass der Täter nochmals triumphiert und das Opfer einen weiteren Schaden erleidet. Hiergegen sollten Sicherungen in die aktuelle Rechtspraxis eingebaut werden.

Es wäre viel gewonnen, wenn eine einfühlsame und kompetente Beratung (z.B. durch Vereine wie Wildwasser, oder auch durch wirklich kompetente staatliche Stellen) zur Pflicht gemacht würde. Staatsanwalten sind hierfür nicht geeignet! Nur wenn eine Beweislage wirklich erfolgversprechend ist und das Opfer so stabil ist, dass es den hohen Anforderungen standhalten kann, darf ein Gerichtsprozess überhaupt begonnen werden. Dadurch soll erreicht werden, dass diejenigen Prozesse, die diese Bedingungen erfüllen, dann auch weit überwiegend Erfolg haben.

Denn nur so lassen sich Schädigungen der Gruppe 2) vermeiden und trotzdem den Tätern mehr entgegensetzen als leere Drohungen mit Strafen, die nur in den seltensten Fällen zum Tragen kommen.